Stretching wissenschaftlich erklärt: Dehnmethoden, Mythen und Empfehlungen

Stretching (Dehnen) ist eine weitverbreitete Praxis im Freizeit- und Leistungssport. Es wird eingesetzt, um die Beweglichkeit zu verbessern, muskuläre Spannungen zu reduzieren, die Leistungsfähigkeit zu unterstützen und Verletzungen vorzubeugen. Trotz seiner Popularität beruhen viele Empfehlungen und Routinen auf überlieferten Annahmen, deren wissenschaftliche Evidenz teilweise widersprüchlich oder unzureichend belegt ist.

Ein internationales Konsortium unter der Leitung von Prof. Dr. Dr. Jan Wilke (Universität Bayreuth) hat 2025 erstmals ein evidenz- und konsensbasiertes Empfehlungspapier veröffentlicht, das die differenzierte Anwendung verschiedener Dehntechniken im Sport klar definiert [1].

Dehnen vor dem Training

  • Ziel: Vorbereitung auf körperliche Belastung, Verbesserung der akuten Beweglichkeit
  • Empfehlung: Dynamisches Dehnen (aktive Bewegungen mit federnden oder rhythmischen Elementen) eignet sich besonders gut, da es die Muskulatur aktiviert und sportartspezifische Bewegungen unterstützt.
  • Dauer: 2 Serien à 5-30 Sekunden pro Muskelgruppe
  • Hinweis: Statisches Dehnen (eine Muskelgruppe wird in eine Dehnposition gebracht und dort für eine gewisse Zeit ruhig gehalten) unmittelbar vor intensiver Belastung kann kurzfristig die Kraft- und Schnellkraftleistung mindern und wird daher nicht empfohlen [1, 2].

Dynamisches Dehnen ist ideal in der Aufwärmphase – z. B. Bein-, Arm- oder Hüftkreisen, Ausfallschritte mit Oberkörperrotation oder kontrollierte Schwungbewegungen.

Dehnen nach dem Training

  • Ziel: Entspannung und Erhalt oder moderate Steigerung der Beweglichkeit
  • Empfehlung: Statisches Dehnen ist geeignet, um muskuläre Spannungen zu reduzieren.
  • Dauer: Kurzfristig 30-60 Sekunden pro Muskelgruppe; für langfristige Beweglichkeitssteigerung ≥ 4 Minuten pro Muskelgruppe, etwa 5 x pro Woche [1, 2].
  • Einschränkung: Laut aktueller Evidenz fördert Dehnen nicht die Regeneration oder beugt Muskelkater vor [1, 3].

Sanftes statisches Dehnen nach dem Sport kann die Körperwahrnehmung verbessern und zu einem Gefühl der Entspannung beitragen, hat aber keine messbare Wirkung auf die Regeneration.

Evidenzlage und Mythen

Seit Jahrzehnten wird über Nutzen und Timing des Dehnens kontrovers diskutiert. In der Praxis kursieren viele Empfehlungen zur Technik, Dauer und Häufigkeit – doch nicht alle sind wissenschaftlich belegt:

  • Mythos 1: Dehnen beugt Muskelkater vor – nicht bestätigt
  • Mythos 2: Dehnen verhindert Verletzungen – keine ausreichende Evidenz bei Gesunden
  • Mythos 3: Dehnen verbessert Haltung – nicht nachgewiesen
  • Mythos 4: Dehnen fördert Muskelwachstum – nicht zutreffend

Dehnen kann kurzfristig die Beweglichkeit erhöhen, langfristig die muskuläre Steifigkeit reduzieren und möglicherweise die Gefäßfunktion verbessern – jedoch nicht die Regeneration oder Kraftleistung unmittelbar steigern [1, 2, 4, 5].

Empfehlungen des internationalen Konsortiums (Wilke et al., 2025)

Basierend auf einem systematischen Review und einem mehrstufigen Delphi-Konsensverfahren wurden folgende evidenzbasierte Empfehlungen formuliert [1]:

Ziel Empfohlene Technik Dauer/Frequenz Evidenz/Kommentar
Kurzfristige Beweglichkeitssteigerung statisch, dynamisch 2 Serien à 5-30 Sekunden Evidenz hoch
Reduktion der Muskelsteifigkeit (langfristig) statisches Dehnen ≥ 4 Minuten pro Muskelgruppe, 5 x/Woche Evidenz moderat
Kardiovaskuläre Effekte (Gefäßfunktion) statisches Dehnen Akut: ≥ 7 Minuten/langfristig: ≥ 15 Minuten Evidenz moderat
Nicht empfohlen für: Verletzungsprophylaxe, Muskelaufbau, Regeneration, Haltungsverbesserung Evidenz gering

Was bedeuten die Ergebnisse für die Praxis?

  • Dehnen ist zielorientiert einzusetzen: vor dem Training eher dynamisch, nach dem Training eher statisch.
  • Für eine nachhaltige Beweglichkeitsverbesserung sind regelmäßige Dehneinheiten entscheidend – ideal fünfmal pro Woche mit insgesamt ≥ 4 Minuten pro Muskelgruppe.
  • Dehnen ist kein Ersatz für Kraft- oder Koordinationstraining, kann dieses aber sinnvoll ergänzen.
  • Für bestimmte Gruppen – etwa ältere Menschen oder Personen mit eingeschränkter Mobilität – kann regelmäßiges Dehnen helfen, die Beweglichkeit und vaskuläre Gesundheit zu erhalten [1, 4].
  • In der Rehabilitation (z. B. nach Verletzungen) sollte Dehnen individuell ärztlich bzw. physiotherapeutisch angepasst werden.

Fazit

Dehnen ist weder Allheilmittel noch überholt, sondern ein wirksames Werkzeug, wenn es zielgerichtet und differenziert eingesetzt wird.
Die neuen internationalen Empfehlungen schaffen Klarheit: Dynamisches Dehnen bereitet optimal auf sportliche Belastungen vor, statisches Dehnen unterstützt langfristig die Beweglichkeit.
Wichtig ist die Anpassung an Ziel, Zeitpunkt und Trainingszustand – pauschale Ratschläge gehören der Vergangenheit an.

Literatur

  1. Warneke K, Wilke J, Behm D, Aeles J, Blazevich A, Konrad A et al.: Practical recommendations on stretching exercise: A Delphi consensus statement of international research experts. J Sport Health Sci. 2025; 14: 101067. doi: 10.1016/j.jshs.2025.101067.
  2. Konrad A, Alizadeh S, Daneshjoo A, Hadjizadeh Anvar S, Graham A, Zahiri A et al.: Chronic effects of stretching on range of motion with consideration of potential moderating variables: A systematic review with meta-analysis. J Sport Health Sci. 2024; 13(2): 186-194. doi: 10.1016/j.jshs.2023.06.002.
  3. Thomas E, Ficarra S, Nunes JP, Paoli A, Bellafiore M, Palma A et al.: Does stretching training influence muscular strength? A systematic review and meta-analysis and meta-regression. J Strength Cond Res. 2023; 37(5): 1145-1156. doi: 10.1519/JSC.0000000000004400.
  4. Thomas E, Bellafiore M, Gentile A, Paoli A, Palma A, Bianco A: Cardiovascular responses to muscle stretching: A systematic review and meta-analysis.
    Int J Sports Med. 2021; 42(6): 481-493. doi: 10.1055/a-1312-7131.