Wann sollte ich mich dehnen? – Evidenzbasierte Empfehlungen zur Anwendung im Sport
Dehnen ist ein häufig angewendetes Mittel im Freizeit- und Leistungssport. Es soll die Beweglichkeit verbessern, Verletzungen vorbeugen oder die Regeneration fördern. Doch viele der zugeschriebenen Wirkungen sind wissenschaftlich nicht eindeutig belegt. Ein internationales Konsortium von Experten unter der Leitung von Prof. Dr. Dr. Jan Wilke hat 2025 erstmals ein evidenzbasiertes, konsensbasiertes Empfehlungspapier vorgelegt, das die differenzierte Anwendung von Dehntechniken im Sport klar definiert [3].
Dehnen vor dem Training
- Ziel: Verbesserung der akuten Beweglichkeit, Vorbereitung auf sportliche Belastung
- Empfehlung: Dynamisches Dehnen eignet sich besonders gut, da es die Muskulatur aktiviert und die sportartspezifische Beweglichkeit unterstützt.
- Dauer: Ca. 5-8 Sekunden pro Muskelgruppe, idealerweise in 2-3 Serien.
- Hinweis: Statisches Dehnen vor intensiver Belastung kann zu einer vorübergehenden Reduktion der Kraft- und Schnellkraftleistung führen und wird deshalb nicht empfohlen [1-3].
Dehnen nach dem Training
- Ziel: Entspannung, Beweglichkeitserhalt oder -steigerung
- Empfehlung: Statisches Dehnen ist nach dem Training gut geeignet, um muskuläre Spannungen zu reduzieren und die Flexibilität langfristig zu verbessern.
- Dauer: Bis zu 45 Sekunden je Muskelgruppe in 1-2 Serien.
- Einschränkung: Zur Regenerationsförderung oder Muskelkaterprophylaxe ist Dehnen laut aktueller Evidenz nicht wirksam [1-3].
Evidenzlage und Mythen
Das Thema Dehnen wird seit Jahrzehnten kontrovers diskutiert. In der Praxis kursieren zahlreiche Empfehlungen zur Technik (statisch vs. dynamisch), Dauer, Häufigkeit und Timing – viele davon ohne wissenschaftliche Grundlage. So ist z. B. der Nutzen von Dehnen zur Haltungsverbesserung oder Verletzungsprophylaxe nicht belegt. Auch die Vorstellung, Dehnen könne Muskelkater vorbeugen, lässt sich in Metaanalysen nicht bestätigen [3].
Empfehlungen des internationalen Konsortiums [3]
Ein systematisches Review und ein DELPHI-Konsensverfahren führten zu folgenden evidenzbasierten Empfehlungen [3]:
- Kurzfristige Beweglichkeitssteigerung
- 2 Serien à 5-30 Sekunden – unabhängig von der Dehntechnik
- Reduktion der Muskelsteifigkeit
- ≥ 4 Minuten statisches Dehnen pro Muskelgruppe, langfristig 5×/Woche
- Kardiovaskuläre Effekte (z. B. arterielle Gefäßfunktion)
- Akut: ≥ 7 Minuten
- Langfristig: ≥ 15 Minuten statisches Dehnen
- Nicht empfohlen für
- Verletzungsprophylaxe
- Muskelwachstum oder Kraftzuwachs
- Regeneration oder Muskelkaterprävention
- Korrektur von Haltungsdefiziten
Fazit
Dehnen kann in verschiedenen Kontexten sinnvoll eingesetzt werden – insbesondere zur Steigerung der Beweglichkeit und zur Entspannung. Die Wahl der Technik (statisch, dynamisch, PNF), die Dauer und die Trainingsfrequenz sollten sich dabei am konkreten Ziel orientieren. Pauschale Empfehlungen sind obsolet. Die neuen Konsensempfehlungen schaffen Klarheit und bieten eine praktikable Grundlage für Sporttreibende, Trainer und Therapeuten.
Literatur
- Freiwald J: Dehnen – Zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Sportverlag Strauß. Jan 2007; 301-309
- Wiemeyer J: Dehnen – eine sinnvolle Vorbereitungsmaßnahme im Sport? Spectrum. 2002; 14 (1): 53-80
- Warneke K, Wilke J, Behm D, Aeles J, Blazevich A, Konrad A, et al. Practical recommendations on stretching exercise: A Delphi consensus statement of international research experts. J Sport Health Sci. 2025. https://doi.org/10.1016/j.jshs.2025.101067