Genetische Vorsorgeuntersuchungen – Indikationsgeleitete prädiktive Diagnostik im Rahmen der Präventionsmedizin

Genetische Vorsorgeuntersuchungen (Untersuchungen zur Feststellung von erblichen Krankheitsrisiken) haben sich in der modernen Präventionsmedizin (Vorsorgemedizin) als evidenzbasierte, hochspezifische Strategien zur frühzeitigen Identifikation individueller Krankheitsrisiken etabliert. Ihr primäres Ziel ist es, hereditäre Prädispositionen (erbliche Veranlagungen) für bestimmte Erkrankungen – insbesondere Tumorentitäten (Krebserkrankungen) und metabolische Störungen (Stoffwechselerkrankungen) – vor dem klinischen Manifestationsbeginn zu erkennen und so präventive, surveillance- oder therapielenkende Maßnahmen einzuleiten. Die Indikationsstellung erfolgt gemäß medizinischer Fachgesellschaften sowie auf Grundlage des Gendiagnostikgesetzes (GenDG) (Gesetz über genetische Untersuchungen beim Menschen).

Die nachfolgende Übersicht beinhaltet die derzeit klinisch-relevanten genetischen Vorsorgeuntersuchungen:

  • BRCA1/BRCA2-Testung (Untersuchung auf erbliche Brust- und Eierstockkrebsrisiken) – bei familiärer Disposition für Brust- und Eierstockkrebs (gemäß S3-Leitlinie „Familiärer Brust- und Eierstockkrebs“). Bei pathogenen Varianten (krankheitsverursachenden Veränderungen) werden strukturierte Früherkennungsprogramme (z. B. Mamma-Magnetresonanztomographie (Mamma-MRT), transvaginale Sonographie) empfohlen.
  • Lynch-Syndrom-Screening (Untersuchung auf erbliche Darmkrebserkrankungen) – molekulargenetische Analyse der DNA-Reparaturgene (Erbgut-Reparaturgene) (z. B. MLH1, MSH2, MSH6, PMS2) bei familiärer Häufung kolorektaler, endometrialer und anderer Lynch-assoziierter Karzinome (Krebserkrankungen).
  • Familiäre Hypercholesterinämie (erbliche Fettstoffwechselstörung) – genetische Diagnostik der LDLR-, ApoB- und PCSK9-Gene zur Früherkennung hereditär bedingter Dyslipidämien (Fettstoffwechselstörungen). Frühzeitige Therapieeinleitung reduziert das kardiovaskuläre Risiko (Herz-Kreislauf-Risiko) signifikant.
  • Hämochromatose-Screening (Erkennung einer Eisenspeicherkrankheit) – Nachweis homozygoter C282Y- oder H63D-Mutationen im HFE-Gen bei auffälligen Eisenstoffwechselparametern und positiver Familienanamnese.
  • Spinale Muskelatrophie (SMA) (Erbkrankheit mit Muskelschwund), Mukoviszidose (CFTR) (vererbte Stoffwechselkrankheit mit Schleimveränderung) – prädiktive Diagnostik (vorbeugende genetische Untersuchung) bei Kinderwunsch oder positiver Familienanamnese. Der Nachweis pathogener Varianten erlaubt genetische Beratung und Reproduktionsplanung.
  • Trägerdiagnostik rezessiver Erkrankungen (Untersuchung auf Veranlagung für vererbte Krankheiten) – Indikation bei Vorerkrankung in der Familie, bekannter heterozygoter Status eines Partners oder ethnischer Hochrisikogruppen (z. B. Ashkenazi-Juden, Mittelmeerraum).
  • Pharmakogenetische Tests (Untersuchungen zur Verträglichkeit und Wirkung von Medikamenten) – gezielte Genotypisierung (Erbgutuntersuchung) zur Optimierung der Arzneimitteltherapie. Klinisch relevant u. a.:
    • CYP2C19 bei Clopidogrel-Gabe (Plättchenaggregationshemmung – Blutverdünnung)
    • TPMT bei Azathioprin (Myelosuppression – Blutbildschädigung vermeiden)
    • DPYD bei Fluoropyrimidinen (z. B. 5-FU) zur Vermeidung toxischer Nebenwirkungen
  • Genetische Beratung nach GenDG (Gespräch zur Aufklärung bei genetischen Untersuchungen) – rechtlich vorgeschrieben vor prädiktiver Diagnostik oder bei positiver Testung. Sie umfasst Aufklärung über Aussagekraft, Konsequenzen und mögliche psychosoziale Belastungen.

Bedeutung im präventivmedizinischen Kontext

Diese genetischen Verfahren ermöglichen eine personalisierte Risikostratifizierung (individuelle Risikoabschätzung), gezielte Früherkennungsprogramme sowie rationale Therapieentscheidungen. Ihre Anwendung muss indikationsgeleitet, evidenzbasiert und unter Achtung ethischer und rechtlicher Rahmenbedingungen erfolgen. Die strukturierte genetische Beratung ist dabei integraler Bestandteil und durch das GenDG geregelt.

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