Reizblase (überaktive Blase, OAB) – Ursachen
Pathogenese (Krankheitsentstehung)
Die Pathogenese der Reizblase ist multifaktoriell und nicht vollständig geklärt. Es werden mehrere Mechanismen diskutiert, die an der Entstehung beteiligt sein können.
Primäre pathophysiologische Mechanismen
- Störungen im vegetativen Nervensystem – Eine Dysbalance zwischen sympathischer und parasympathischer Kontrolle der Blasenfunktion wird als zentrale Ursache diskutiert. Eine Überaktivität der afferenten Nervenbahnen kann eine verstärkte Detrusoraktivität auslösen und das Gefühl von Harndrang steigern.
- Detrusorüberaktivität* – Nachweisbare unwillkürliche Kontraktionen des Detrusormuskels, häufig idiopathisch, können die Symptome auslösen. Diese ist ein urodynamischer Befund und das wichtigste Korrelat der OAB in Studien.
- Neurogene Dyskoordination (Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie, DSD) – Relevanz nur bei Patienten mit neurologischen Erkrankungen (z. B. Multiple Sklerose, Rückenmarksläsion). Für die idiopathische OAB spielt DSD keine Rolle und wurde daher aus der primären Pathogenese gestrichen.
- Lokale Entzündungsprozesse – Histologische Untersuchungen zeigen bei einem Teil der Betroffenen eine chronische, niedriggradige Inflammation (Entzündung) der Blasenschleimhaut, die sensorische Nervenenden reizt und die Harndrangschwelle senkt.
- Verändertes Harnmikrobiom (Harndysbiose) – Neuere Studien (bis 2024) bestätigen Unterschiede in der Zusammensetzung des Blasenmikrobioms zwischen OAB-Patienten und Gesunden. Diese Dysbiose könnte inflammatorische Prozesse und nervale Überaktivität verstärken.
*Der Begriff "Detrusor" bezieht sich auf den Musculus detrusor vesicae, den Muskel, der die Harnblase umgibt und dessen Kontraktion (Zusammenziehen) für die Entleerung der Blase verantwortlich ist.
Sekundäre pathophysiologische Mechanismen
- Nervale Überempfindlichkeit – Chronische Reizung der Blasenschleimhaut kann zu einer Sensibilisierung afferenter Nervenfasern führen, was den Harndrang verstärkt.
- Verstärkte sensorische Signalübertragung – Überaktivität der afferenten Nervenbahnen führt zu einer gesteigerten Wahrnehmung von Füllungsreizen im zentralen Nervensystem.
- Chronische Entzündungsreaktionen – Lokale Entzündungen erhöhen die Blasensensitivität, auch ohne Infektion oder strukturelle Schäden.
Klinische Manifestation
- Drangsymptomatik (Urgency) – plötzlich auftretender, schwer unterdrückbarer Harndrang
- Pollakisurie – häufiges Wasserlassen in kleinen Mengen
- Nykturie – wiederholtes Wasserlassen in der Nacht
Zusammenfassung
Die Reizblase (OAB) entsteht durch eine Kombination aus nervalen, entzündlichen und mikrobiellen Faktoren. Wesentliche pathophysiologische Mechanismen sind die Überaktivität des Detrusors, Veränderungen in der sensorischen Signalübertragung und niedriggradige Inflammationen. Neuere Daten weisen zudem auf eine Beteiligung des Harnmikrobioms hin. Die genaue Gewichtung dieser Faktoren variiert zwischen den Patienten, was die heterogene Ausprägung der Erkrankung erklärt.
Ätiologie (Ursachen)
Die Reizblase ist eine idiopathische Erkrankung – eine klar definierte Ursache ist nicht bekannt. Es werden jedoch verschiedene Faktoren identifiziert, die das Auftreten der Erkrankung begünstigen können.
Biographische Ursachen
- Höheres Alter – die Prävalenz steigt mit zunehmendem Lebensalter
- Menopause (Wechseljahre der Frau) – Östrogenmangel kann zu Schleimhautatrophie in Scheide und Harnröhre führen, wodurch irritative Symptome verstärkt werden.
Verhaltensbedingte Ursachen
- Ernährung
- Sehr scharfe oder stark gewürzte Speisen – können die Blasenschleimhaut irritieren und Harndrang verstärken
- Hoher Konsum von Zitrusfrüchten oder Tomatenprodukten – kann die Blase reizen
- Übermäßige Flüssigkeitszufuhr in kurzer Zeit – kann die Symptomatik verschlechtern
- Genussmittelkonsum
- Alkohol – wirkt harntreibend und kann die Blasenkapazität senken
- Tabak (Rauchen) – gilt als Risikofaktor für Blasenfunktionsstörungen
- Koffein (z. B. Kaffee, Tee, Energy-Drinks, Cola) – steigert Harndrang und Drangsymptome
- Körperliche Aktivität
- Bewegungsmangel – begünstigt Übergewicht und damit OAB-Symptome
- Hohe körperliche Belastung (z. B. Leistungssport, schweres Heben) – kann über Druckerhöhung im Beckenboden die Symptome verschärfen
- Psycho-soziale Situation
- Stress – kann die Blasenmuskulatur über vegetative Nervenbahnen verstärkt aktivieren
- Nervosität und psychische Belastungen – verstärken Drangsymptome und erschweren die Kontrolle
- Schlafqualität
- Chronisch gestörter Schlaf – verstärkt die Häufigkeit von Nykturie (nächtlichem Harndrang)
- Unregelmäßiger Schlafrhythmus – kann die Blasenkontrolle negativ beeinflussen
- Übergewicht (BMI ≥ 25; Adipositas)
- Erhöht intraabdominellen Druck – führt zu verstärkten OAB-Symptomen
- Begünstigt zusätzlich metabolische Faktoren, die Blasenfunktionsstörungen unterhalten können
Krankheitsbedingte Ursachen
- Benigne Prostatahyperplasie (BPH) – kann Drangsymptome verstärken
- Harnblasentumoren – insbesondere Carcinoma in situ, wichtige Differenzialdiagnose
- Genitalprolaps – führt zu mechanischen Veränderungen mit OAB-Symptomen
- Störung der Nervenreizleitung – bei neurologischen Erkrankungen wie Apoplex (Schlaganfall), Morbus Parkinson, Multipler Sklerose (MS), Diabetes mellitus Typ 2
- Urolithiasis – mechanischer Reiz mit Harndrang
- Rezidivierende Zystitiden – häufig bei Frauen, können die Blasensensitivität erhöhen
Medikamente
- Diuretika (harntreibende Mittel) – verstärken Harndrang durch erhöhte Urinproduktion
- Protonenpumpenhemmer (PPI) – eine längerfristige PPI-Therapie ist mit einem erhöhten OAB-Risiko assoziiert (adjustierte Odds-Ratio 1,36); die Kausalität ist nicht gesichert und unklar, ob ein Absetzen die Blasenfunktion verbessert [2].
Umweltbelastung – Intoxikationen (Vergiftungen)
- Kälte- und Nässereize – können irritative Blasensymptome begünstigen
Weitere Ursachen
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Schwangerschaft – hormonelle und mechanische Faktoren können Drangsymptome hervorrufen
Literatur
- Gill K et al.: A blinded observational cohort study of the microbiological ecology associated with pyuria and overactive bladder symptoms. Int Urogynecol J 2018 Oct;29(10):1493-1500. doi: 10.1007/s00192-018-3558-x. Epub 2018 Feb 17.
- Du YZ et al. Association Between Proton Pump Inhibitor Use and Overactive Bladder Risk in Adults: A Cross-Sectional Study. Urology 2024; https://doi.org/10.1016/j.urology.2024.09.015