Proliferationstherapie
Die Proliferationstherapie (Reiztherapie für Bänder und Gelenke) (Synonym: Prolotherapie (Reiztherapie); engl. stimulated ligament repair (SLR)) ist ein reparatives und regeneratives Injektionsverfahren zur Schmerzbehandlung an Gelenken und am Bewegungsapparat. Sie wird insbesondere zur Behandlung von laxen Gelenken und Bandstrukturen (Bändern) eingesetzt, um die Gelenke zu stabilisieren und dadurch die natürliche Bewegungsfähigkeit zu verbessern; ein Alleinstellungsanspruch gegenüber etablierten konservativen und interventionellen Verfahren lässt sich aus der aktuell verfügbaren Evidenz jedoch nicht ableiten. Außerdem wird diese Injektionstechnik zunehmend bei bestimmten Formen der Gelenkarthrose (Gelenkverschleiß) eingesetzt, wobei ihr Stellenwert im Vergleich zu leitlinienempfohlenen Standardtherapien noch nicht abschließend geklärt ist [7-9, 10-13].
Die Proliferationstherapie gilt als ein Naturheilverfahren zur Schmerztherapie, mit dem in den USA seit mehreren Jahrzehnten zahlreiche Patienten behandelt wurden. In Europa wird dieses Therapieverfahren erst langsam durch das Fachbuch (Handbuch der Proliferationstherapie) und den Patientenratgeber (So stärken wir unsere Gelenke) von Dr. J. Weingart bekannt [4-6].
Aus heutiger Sicht ist die Evidenzlage (Datenlage aus Studien) zur Proliferationstherapie heterogen, insgesamt moderat und stark indikationsabhängig. Randomisierte kontrollierte Studien (randomisierte Vergleichsstudien) sowie mehrere systematische Reviews (systematische Übersichtsarbeiten) und Metaanalysen (statistische Zusammenfassungen mehrerer Studien) berichten für bestimmte chronische muskuloskelettale Schmerzen (Schmerzen an Muskeln und Gelenken) und insbesondere für Kniegelenkarthrose (Verschleiß des Kniegelenks) im Vergleich zu Placebo (Scheinmedikament) oder Basistherapie (Grundbehandlung) teils klinisch relevante, im Mittel aber nur moderate Verbesserungen von Schmerz und Funktion [7-12]. Gleichzeitig bestehen wesentliche methodische Limitationen (kleine Fallzahlen, kurze Nachbeobachtungszeiten, heterogene Protokolle, fehlende Verblindung und Ko-Interventionen), wie insbesondere der Cochrane-Review (große unabhängige Übersichtsarbeit) zeigt [14].
Internationale Leitlinien (Behandlungsleitlinien) ordnen die Proliferationstherapie deshalb bislang nicht als Standardverfahren ein: Für die Behandlung der Knie- und Hüftarthrose (Verschleiß der Knie- und Hüftgelenke) wird sie in aktuellen rheumatologischen Leitlinien (z. B. American College of Rheumatology/Arthritis Foundation (amerikanische Fachgesellschaften für Rheumaerkrankungen)) ausdrücklich nicht empfohlen bzw. sogar gegen ihren Einsatz votiert. Leitlinien zum chronischen nicht-spezifischen Kreuzschmerz (unspezifische Schmerzen im unteren Rücken) sehen Proliferationstherapie nur – wenn überhaupt – als mögliche Option in Einzelfällen nach ausführlicher Aufklärung über die unsichere Datenlage.
Wie bei anderen komplementären Schmerztherapieverfahren (ergänzenden Schmerzbehandlungen) werden bewusst nur natürliche Medikamente eingesetzt. Das Ziel ist es, operative Eingriffe möglichst zu vermeiden, Schmerzen zu lindern und die Funktion der betroffenen Strukturen zu verbessern; die Evidenz für eine echte strukturelle Regeneration von Gelenkknorpel (Wiederaufbau der Knorpelschicht im Gelenk) ist derzeit jedoch begrenzt [7-13].
Zielsetzungen und Wirkungsweise der Proliferationstherapie
Zielsetzung
- Regeneration und Reparatur: Hauptziel ist die Förderung der Heilungsprozesse in geschädigten Gelenken, Bändern und Sehnen durch die Anregung der körpereigenen Reparaturmechanismen.
- Schmerzlinderung: Gezielte Injektionen zur Schmerzreduktion an chronischen Schmerzpunkten, um eine bessere Lebensqualität und möglichst Schmerzfreiheit oder zumindest eine relevante Schmerzreduktion zu erreichen [7-12].
- Stabilisierung von Gelenken: Verbesserung der Stabilität von laxen Gelenken und Bandstrukturen zur Wiederherstellung ihrer natürlichen Funktion und Beweglichkeit.
- Vermeidung operativer Eingriffe: Durch die natürliche und minimalinvasive Vorgehensweise soll die Notwendigkeit chirurgischer Interventionen (Operationen) reduziert werden; ein sicherer Ersatz für etablierte operative Verfahren ist nach derzeitiger Datenlage jedoch nicht belegt [14].
Wirkungsweise
- Aktivierung der Heilung: Durch Injektion einer hoch konzentrierten Zuckerlösung oder anderer natürlicher Substanzen wird eine milde Entzündungsreaktion provoziert, die die Heilung von Gewebe stimulieren soll.
- Verbesserung der lokalen Durchblutung: Die Therapie fördert die Durchblutung und damit die Nährstoffversorgung des behandelten Areals.
- Mechanische Stimulation: Die Injektion kann das Gewebe zur Kollagenproduktion (Bildung von Bindegewebseiweiß) anregen.
Indikationen
- Arthralgien (Gelenkschmerzen), lokale oder diffuse
- Arthrose von Gelenken [9-13]
- Gelenksdistorsionen (Gelenkverstauchungen)
- Gonalgie (Knieschmerzen)
- Gurtverletzungen (Verletzungen von Bändern)
- Hallux valgus-Schmerzen (Schmerzen beim Ballenzeh)
- Hypermobilität der Gelenke (überbewegliche Gelenke)
- Instabile Gelenke
- Lumbago/Dorsalgie (Kreuzschmerz/Rückenschmerz)
- Nackenschmerzen
- Schleudertrauma (Halswirbelsäulen-Schleudertrauma)
- Reizzustände an Sehnen
- Spondylolisthese (Wirbelgleiten)
- Sprunggelenkschmerzen
- Verletzungen an Gelenken, Bändern und Kapseln
Vor der Therapie
- Umfassende Anamnese (Erhebung der Krankengeschichte)
- Aufklärung: insbesondere Hinweis auf die heterogene Evidenzlage [14]
- Untersuchung des betroffenen Bereichs
- Planung der Behandlung
Das Verfahren
Grundprinzip
Die Proliferationstherapie ist ein regeneratives Injektionsverfahren, das darauf abzielt, chronische und akute Schmerzen am Bewegungsapparat zu behandeln.
Ziel der Therapie
- Regeneration von Gewebe
- Stabilitätsförderung
- Schmerzreduktion [7-12]
Anwendung
- Injektionstechnik (Art und Weise der Einspritzung)
- Natürliche Substanzen (hochprozentige Zuckerlösung)
Die Proliferationstherapie wird in Fallserien (Beobachtungsstudien ohne Vergleichsgruppe) häufig mit Erfolgsraten von 70-90 % beschrieben, wohingegen randomisierte Studien im Mittel nur moderate Effekte zeigen [7-14].
Nach der Therapie
- Überwachung (Beobachtung nach der Behandlung)
- Nachsorgeanweisungen (Verhaltensregeln nach der Behandlung)
- Regelmäßige Nachkontrollen (wiederholte ärztliche Kontrollen)
Mögliche Komplikationen
Frühkomplikationen
- Schmerzen, Schwellungen
- Hämatome (Blutergüsse)
- Vorübergehende Beschwerdezunahme
Spätkomplikationen
- Anhaltende Schmerzen
- Infektionen (Entzündungen durch Keime)
- Seltene allergische Reaktionen (Überempfindlichkeitsreaktionen)
Literatur
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- Weingart J: Handbuch der Proliferationstherapie. MVS Haug 2002.
- Weingart J: Proliferationstherapie: Rekonstruktive Ligament- und Sehnentherapie bei Gelenkinstabilität. In: Leithoff P, Sadler B (Hrsg.). Individuelle Gesundheitsleistung (IGeL) in der Orthopädie. Thieme, Stuttgart, 2001.
- Weingart J: So stärken wir unsere Gelenke – Neue Strategien für ein besseres Leben. Zabert Sandmann Verlag, 2005.
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Leitlinien
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