Vegetarische und vegane Ernährung in der Stillzeit – Chancen und Risiken
Die Stillzeit ist eine hochsensible Phase, in der der Nährstoffbedarf der Mutter deutlich steigt und sich die Ernährung direkt auf die Zusammensetzung der Muttermilch auswirkt. Da Muttermilch die alleinige Nahrungsquelle des Säuglings in den ersten Lebensmonaten darstellt, sind Mangelzustände der Mutter potentiell kritisch für die kindliche Entwicklung.
Vegetarische und vegane Ernährungsweisen werden zunehmend praktiziert – auch von stillenden Frauen. Während eine ausgewogene lacto-ovo-vegetarische Ernährung (Verzehr von Milch und Milchprodukten sowie Eiern ist erlaubt) in der Regel ohne größere Risiken möglich ist, erfordert die streng vegane Ernährung ein besonderes Augenmerk, da mehrere Nährstoffe kritisch werden können.
Chancen pflanzenbasierter Ernährung in der Stillzeit
Eine pflanzlich betonte Ernährung ist mit einer Vielzahl gesundheitlicher Vorteile verbunden:
- Reduziertes Risiko für Adipositas und Stoffwechselerkrankungen: Studien weisen auf ein günstigeres Körpergewicht, bessere Blutfettwerte und eine niedrigere Prävalenz von Typ-2-Diabetes bei Vegetarierinnen und Veganerinnen hin [1].
- Verbesserte Mikronährstoffdichte: Hohe Zufuhr an Vitamin C, Folsäure, Magnesium, Kalium und sekundären Pflanzenstoffen. Diese Nährstoffe können die antioxidative Kapazität der Muttermilch positiv beeinflussen.
- Günstiges Fettsäureprofil: Durch den geringeren Anteil gesättigter Fettsäuren und den höheren Anteil an mehrfach ungesättigten Fettsäuren ergibt sich häufig eine gesündere Zusammensetzung der Muttermilch.
- Präventives Potential: Epidemiologische Daten legen nahe, dass Kinder vegetarischer Mütter ein geringeres Risiko für Übergewicht im späteren Leben aufweisen könnten, wobei die Evidenz hierzu noch uneinheitlich ist.
Risiken und kritische Nährstoffe
Die größten Herausforderungen liegen in der ausreichenden Versorgung mit bestimmten Nährstoffen.
- Vitamin B12: Absolut kritischer Nährstoff. Ohne Supplementation besteht hohes Risiko für schwerwiegende Mängel mit irreversiblen neurologischen Schäden beim Kind. Fälle von Gedeihstörungen, Entwicklungsverzögerungen und Apathie (Teilnahmslosigkeit) bei Säuglingen veganer Mütter sind dokumentiert [2].
- Vitamin D: Abhängig von der Sonnenexposition. Da der Bedarf in Mitteleuropa meist nicht gedeckt wird, ist eine Supplementation notwendig – unabhängig vom Ernährungsstil.
- Calcium: Der Bedarf in der Stillzeit beträgt 1000 mg/Tag. Pflanzliche Quellen (Brokkoli, Sesam, Mandeln, Hülsenfrüchte) können reichen, müssen aber gezielt kombiniert werden. Angereicherte Pflanzendrinks sind eine sinnvolle Ergänzung.
- Eisen: In der Stillzeit sinkt der Eisenbedarf im Vergleich zur Schwangerschaft, bleibt aber relevant. Pflanzliches Eisen ist weniger bioverfügbar; Vitamin-C-reiche Kost ist zur Verbesserung der Resorption wichtig.
- Jod: In Deutschland flächendeckend kritisch. Jodiertes Speisesalz und Supplementation sind für die Schilddrüsenentwicklung des Kindes zentral.
- Omega-3-Fettsäuren (DHA/EPA): Die Umwandlungsrate von der Omega-3-Fettsäure alpha-Linolensäure (ALA) aus Leinsamen, Walnüssen oder Chiasamen in Docosahexaensäure (DHA) und Eicosapentaensäure (EPA) ist gering (unter 5 %). Algenölpräparate bieten eine vegane Alternative, um die fettsäureabhängige Entwicklung von Gehirn und Retina (Netzhaut) zu unterstützen [3].
- Zink und Selen: Vor allem bei veganer Ernährung relevant, da pflanzliche Quellen häufig phytatreich sind und dadurch die Bioverfügbarkeit reduziert wird.
Praktische Empfehlungen
- Ernährungsanamnese: Detaillierte Erhebung der Ernährungsweise und möglicher Supplemente.
- Laborkontrollen: Regelmäßige Überprüfung von Vitamin B12, Ferritin, 25-OH-Vitamin D, Schilddrüsenparametern sowie ggf. Omega-3-Index.
- Supplementationsstrategie:
- Vitamin B12: obligat bei veganer Ernährung
- Vitamin D: bei allen Müttern meist notwendig
- Jod: 100-150 µg/Tag zusätzlich empfohlen
- DHA: Algenölpräparate bei veganer Ernährung
- Aufklärung der Eltern: Besonders wichtig, um Fehlannahmen („eine rein pflanzliche Ernährung sei automatisch gesund und vollwertig“) vorzubeugen.
- Interdisziplinäre Zusammenarbeit: Involvierung von Ernährungsmedizinern und ggf. spezialisierten Diätassistenten kann die Compliance erhöhen.
Fazit
Die Diskussion um vegane Ernährung in der Stillzeit ist oft emotional aufgeladen. Während Befürworter auf die Vorteile pflanzenbasierter Kost verweisen, warnen Fachgesellschaften vor den Risiken unzureichender Supplementation. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) rät ausdrücklich zu sorgfältiger Planung und ärztlicher Begleitung veganer Stillender [4].
Für die Praxis bedeutet das: Vegane Ernährung in der Stillzeit ist möglich, aber nur bei konsequenter Supplementation und regelmäßiger Kontrolle sicher. Das Gespräch mit den Eltern sollte einerseits sensibel geführt werden, um Vorbehalte nicht zu verstärken, andererseits aber klar auf Risiken hinweisen.
Literatur
- Piccoli GB, Clari R, Vigotti FN, Leone F, Attini R, Cabiddu G, Mauro G, Castelluccia N, Colombi N, Capizzi I, Pani A, Todros T: Vegan-vegetarian diets in pregnancy: Danger or panacea? A systematic narrative review. BJOG. 2015;122(5):623-633. doi: 10.1111/1471-0528.13280.
- Pawlak R, Lester SE, Babatunde T: The prevalence of cobalamin deficiency among vegetarians assessed by serum vitamin B12: a review of literature. Eur J Clin Nutr. 2014 May;68(5):541-8. doi: 10.1038/ejcn.2014.46.
- Sanders TAB: DHA status of vegetarians. Prostaglandins Leukot Essent Fatty Acids. 2009;81(2-3):137-141. doi: 10.1016/j.plefa.2009.05.013.
- Richter M, Boeing H, Grünewald-Funk D, Heseker H, Kroke A, Leschik-Bonnet E, Oberritter H, Strohm D, Watzl B: Vegane Ernährung: Position der Deutschen Gesellschaft für Ernährung. Ernährungs Umschau. 2016;63(4):92-102. doi: 10.4455/eu.2016.021.