Harnsystem

Nachfolgend werden unter "Harnsystem" Krankheiten beschrieben, die gemäß ICD-10 dieser Kategorie zuzuordnen sind (N00-N08, N10-N16, N17-N19, N20-N23, N25-N29, N30-N39). Der ICD-10 dient der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten sowie verwandter Gesundheitsprobleme (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) und ist weltweit anerkannt.

Harnsystem

Zum Harnsystem gehören Nieren (Ren, Nephros), Harnleiter (Ureter), Harnblase (Vesica urinaria) und die Harnröhre (Urethra).

Anatomie

Nieren
Der Mensch besitzt zwei Nieren, die links und rechts neben der Wirbelsäule, in Höhe der 11. und 12. Rippe liegen. In ihrem Aussehen erinnern sie an Kidneybohnen. Sie sind jeweils ca. 10 cm lang und ca. 6 cm breit.

Harnleiter
Die Harnleiter (Ureter) sind paarig angelegte Hohlorgane mit einer Länge von ca. 25-30 cm. Sie verbinden Nierenbecken (lat. pelvis renalis, griech. Pyelos) und Harnblase. 

Harnblase 
Die Harnblase (lat. vesica urinaria) ist ein dehnbares Hohlorgan. Sie liegt im kleinen Becken und bildet zusammen mit der Harnröhre (Urethra) den unteren Harntrakt. Seitlich in die Harnblase münden die beiden Harnleiter (Ureter), die von den Nieren kommen.
Die Harnblase hat ein maximales Fassungsvermögen von 800 bis 1.500 ml (Blasenkapazität).

Harnröhre
Die männliche Harnröhre (Urethra masculina) reicht von der Harnblase bis zum Ende des Penis. Sie ist ca. 17-20 cm lang.
Die weibliche Harnröhre (Urethra feminina) ist nur 3-5 cm lang. Sie beginnt am Blasenhals (unteres Ende der Harnblase).

Physiologie

Nieren
Die Nieren haben wichtige Filteraufgaben. Jeden Tag filtern die Nieren ca. 280 Liter Blut und sortieren dabei 1-2 Liter Wasser und Stoffwechselendprodukte aus, die den Körper als Urin verlassen. Die restliche Flüssigkeit wird wieder in den Blutkreislauf zurückgeführt.
Der Filterprozess läuft dabei in den winzigen Filterkörperchen der Nieren – den sogenannten Nephronen – ab, von denen jede Niere circa 1 Million hat. Der Filterprozess wird am besten beschrieben durch die Kreatinin-Clearance. Dieses ist eine Untersuchungsmethode zur Bestimmung der Clearance-Funktion der Nieren. Sie ermöglicht eine relativ genaue Bestimmung der glomerulären Filtrationsrate (GFR) und damit die Beurteilung der Nierenfunktion.
In den Nierenbecken sammelt sich der Urin und fließt kontinuierlich durch die Harnleiter (Ureter) in die Harnblase.

Die Nieren sind wichtiger Ort der Hormonproduktion. Die Hormone sind unter anderem für die komplexe Regulation des Blutdrucks zuständig. Daran ist neben der Natrium-Konzentration des Blutes unter anderem auch das Hormon Renin beteiligt, das in der Niere gebildet wird.
Des Weiteren sind die Nieren auch am Knochenstoffwechsel beteiligt: Das in der Niere gebildete Vitamin D3 (Calcitriol) ermöglicht dem Körper, Calcium über den Darm aufzunehmen und in die Knochen einzulagern.
Zudem produziert die Niere das Hormon Erythropoetin, welches die Bildung der roten Blutkörperchen (Erythrozyten) anregt.

Eine weitere wichtige Aufgabe haben die Nieren im Säure-Basen-Haushalt bei der Konstanthaltung des pH-Wertes im Körper. Die Nieren sind nicht nur imstande, nicht flüchtige Säuren auszuscheiden, sondern können je nach Stoffwechselsituation den Pufferbestand im Körper variieren, vor allem den Bestand des Bikarbonats (HCO3-) im Blutkreislauf.

Harnleiter
Die Ureter dienen dem Transport des Urins aus den Nierenbecken in die Harnblase.

Harnblase
Die Harnblase dient der Zwischenspeicherung des Urins, der in den Nieren produziert und in den Nierenbecken gesammelt wird, bevor er durch die Harnleiter in die Harnblase gelangt. Bei einer Füllung von 250 ml bei Frauen und von 350 ml bei Männern setzt ein starker Harndrang ein. Dieser Harndrang ist individuell sehr unterschiedlich ausgeprägt und wird durch Erkrankungen wie beispielsweise Harninkontinenz (unkontrollierter Urinverlust über die Harnröhre), Reizblase etc. stark beeinflusst. Die Harnblase hat innere und äußere Schließmuskeln, wovon sich der äußere willentlich steuern lässt.

Harnröhre
Über die Harnröhre wird der Urin ausgeleitet und ausgeschieden.
Bei den Männern hat die Harnröhre eine Doppelfunktion: auch das Sperma wird während der Ejakulation über die Harnröhre ausgeschieden (→ Harn-Samenröhre).

Die wichtigsten Risikofaktoren für Erkrankungen des Harnsystems

Verhaltensbedingte Risikofaktoren

Ernährung

  • Unzureichende Flüssigkeitszufuhr – Eine zu geringe Trinkmenge führt zu konzentriertem Urin, erschwert das „Durchspülen“ der Harnwege und begünstigt Harnwegsinfektionen (Blasenentzündungen).
  • Hoher Konsum oxalsäurereicher Lebensmittel – Häufiger Verzehr von Mangold, Spinat, Rhabarber oder Kakaopulver kann zur Bildung von Calciumoxalatsteinen (Nierensteinen) führen.
  • Übermäßige Calciumaufnahme bei gleichzeitigem Oxalsäurekonsum – Eine hohe Zufuhr von Calcium in Kombination mit oxalsäurehaltigen Lebensmitteln erhöht das Risiko für Nephrolithiasis (Nierensteinbildung).
  • Zuckerreiche Ernährung – Ein hoher Zuckerkonsum kann das Wachstum von Bakterien im Urin fördern und zu Harnwegsinfektionen beitragen.
  • Hoher Salzkonsum – Übermäßige Natriumaufnahme kann zur Kalziumausscheidung über die Nieren führen und das Risiko für Nierensteine steigern.

Genussmittelkonsum

  • Rauchen – Erhöht das Risiko für Urothelkarzinome (Krebs der ableitenden Harnwege), insbesondere der Harnblase.
  • Chronischer Alkoholkonsum – Kann die Ausscheidungsfunktion der Nieren beeinträchtigen und die Harnkonzentration verändern.
  • Koffeinüberkonsum – Fördert eine Reizung der Blase und kann Harndrang oder Schmerzen beim Wasserlassen (Dysurie) verstärken.

Körperliche Aktivität

  • Bewegungsmangel – Reduziert die Durchblutung der Beckenorgane, begünstigt Restharnbildung (unvollständige Blasenentleerung) und erhöht das Infektionsrisiko.
  • Übermäßige körperliche Anstrengung – Kann zu mikroskopischer Hämaturie (Blut im Urin) führen, insbesondere bei Sportarten mit hoher Stoßbelastung.

Psycho-soziale Situation

  • Chronischer Stress – Dauerhafte Anspannung beeinflusst die Blasenfunktion negativ, z. B. durch Detrusorüberaktivität (überaktive Blase) oder häufiges Wasserlassen bei Nervosität.
  • Psychosomatische Anspannung – Fördert verspannte Beckenboden- und Blasenmuskulatur, was zu Miktionsstörungen (Probleme beim Wasserlassen) führen kann.

Schlafqualität

  • Schlechter Schlaf – Schlafmangel stört die hormonelle Regulation der Harnausscheidung und kann zu Nykturie (nächtlichem Wasserlassen) führen.
  • Schlafapnoe-Syndrom – Fördert über nächtliche Druckveränderungen im Körper die vermehrte nächtliche Urinausscheidung.

Exposition gegenüber Kälte und Feuchtigkeit

  • Kalte Zugluft – Eine lokale Unterkühlung der Beckenregion erhöht durch reflektorische Reaktionen das Risiko für Zystitiden (Blasenentzündungen).
  • Tragen feuchter Badekleidung über längere Zeit – Fördert die Ansiedlung von Keimen im Intimbereich und kann zu Infektionen der unteren Harnwege führen.

Hygienegewohnheiten

  • Mangelnde Intimhygiene – Begünstigt aufsteigende Infektionen durch Darmbakterien im Bereich von Harnröhre und Blase.
  • Übertriebene Intimhygiene – Die häufige Anwendung von Intimseifen, Sprays oder Spülungen kann die natürliche Schutzflora (nützliche Bakterien) stören und Infektionen fördern.

Sexualpraktiken und Kontrazeptionsmethoden

  • Verwendung von Diaphragmen oder Spermiziden – Erhöht insbesondere bei Frauen das Risiko für rezidivierende Zystitiden (wiederkehrende Blasenentzündungen).
  • Häufiger Geschlechtsverkehr ohne Blasenentleerung danach – Kann das Eindringen von Keimen in die Harnröhre fördern („Honeymoon-Zystitis“ bei jungen Frauen).

Übergewicht (BMI ≥ 25; Adipositas)

  • Adipositas – Erhöht das Risiko für Inkontinenz (unwillkürlicher Urinverlust), Restharnbildung und wiederkehrende Harnwegsinfektionen.
  • Erhöhter abdomineller Druck – Führt zu einer Belastung der Blase, insbesondere bei adipösen Menschen, und kann chronische Entleerungsstörungen begünstigen.

Krankheitsbedingte Risikofaktoren

  • Diabetes mellitus Typ 1 und Typ 2
    • Chronisch erhöhte Blutzuckerwerte führen zu Mikroangiopathien (Schädigung kleinster Blutgefäße), insbesondere der Glomeruli (Nierenkörperchen), was eine diabetische Nephropathie (Nierenschädigung durch Diabetes) zur Folge haben kann.
    • Zusätzlich erhöhen autonome Neuropathien (Nervenschädigungen des vegetativen Nervensystems) das Risiko für Harnverhalt, Restharnbildung und rezidivierende Harnwegsinfektionen.
    • Glukosurie (Zuckerausscheidung im Urin) begünstigt bakterielle Besiedlung der Harnwege.
  • Arterielle Hypertonie (Bluthochdruck)
    • Führt zu strukturellen Gefäßveränderungen der renalen Mikrozirkulation (Nierendurchblutung), insbesondere der Arteriolen, was zu einer hypertensiven Nephrosklerose (Verhärtung der Nierengefäße) führen kann.
    • Die chronische Druckbelastung reduziert die Filtrationsleistung der Nieren und ist einer der Hauptfaktoren für eine terminale Niereninsuffizienz.
  • Chronische Nierenerkrankung (CKD)
    • Alle Stadien der chronischen Niereninsuffizienz erhöhen das Risiko für renale Entgleisungen, Elektrolytstörungen und Infektionen der ableitenden Harnwege.
    • Insbesondere im fortgeschrittenen Stadium besteht eine erhöhte Infektanfälligkeit sowie eine Störung der Konzentrations- und Ausscheidungsfunktion.
  • Rezidivierende Harnwegsinfektionen
    • Wiederholte Entzündungen der ableitenden Harnwege begünstigen Narbenbildung, Strikturen (Verengungen) und funktionelle Blasenentleerungsstörungen.
    • Insbesondere bei Frauen kann es zur chronischen Zystitis (dauerhafte Blasenentzündung) mit Schmerzsyndromen und Detrusorinstabilität (Blasenmuskulaturinstabilität) kommen.
  • Prostataerkrankungen (z. B. benigne Prostatahyperplasie)
    • Eine vergrößerte Prostata kann zu Harnabflussstörungen, Restharn und rezidivierenden Infektionen führen.
    • Auch das Risiko für eine akute Harnretention (Harnverhalt) ist erhöht.
  • Neurogene Blasenentleerungsstörung
    • Erkrankungen wie Multiple Sklerose, Querschnittslähmung, Parkinson-Krankheit oder diabetische Polyneuropathie können zu einer gestörten Blaseninnervation führen.
    • Die Folge sind Harnverhalt, Inkontinenz, Restharnbildung und ein erhöhtes Infektionsrisiko.
  • Urolithiasis (Harnsteine)
    • Steine im Harntrakt können durch mechanische Reizung zu Entzündungen, Harnstau (Hydronephrose) und bakterieller Superinfektion führen.
    • Wiederkehrende Steine erhöhen das Risiko für Nierenfunktionsverlust und chronische Harnwegsinfektionen.
  • Anatomische Fehlbildungen oder Abflussbehinderungen
    • Angeborene oder erworbene Stenosen, Ureterabgänge, Reflux (Rückfluss von Urin) oder Zysten begünstigen Infektionen, Reizungen und chronische Nierenschäden.
    • Beispiele: Ureterabgangsstenose, vesikoureteraler Reflux, Doppelniere, Zystennieren.
  • Immunsuppression und chronische Grunderkrankungen
    • Zustände wie HIV, chronische Leukämien oder immunsuppressive Therapie (z. B. nach Organtransplantation) begünstigen Infektionen des Harntrakts durch atypische Erreger (z. B. Pilze, Viren).
    • Auch eine erhöhte Besiedlung mit resistenten Bakterienstämmen wird beobachtet.

Medikamente

  • Analgetikaabusus (Missbrauch von Schmerzmitteln), Antibiotikatherapie, Zytostatika (Medikamente in der Onkologie/Krebstherapie; z. B. Methotrexat)

Röntgenstrahlen

  • Radiatio (Strahlentherapie) bei Tumorerkrankungen – sogenannte „Strahlenzystitis“

Weiteres

  • Mechanische Reize – z. B. Dauerkatheter (Harnblasenkatheter)

Bitte beachten Sie, dass die Aufzählung nur einen Auszug der möglichen Risikofaktoren darstellt. Weitere Ursachen finden Sie unter der jeweiligen Krankheit.

Häufige Erkrankungen des Harnsystems

Zu den häufigsten Erkrankungen des Harnsystems zählen:

Die wichtigsten diagnostischen Maßnahmen für Erkrankungen des Harnsystems

Labordiagnostik

  • Urinuntersuchung
    • Urinstatus (Urinteststreifen) – Schnelltest zur Erkennung von Blut, Eiweiß, Zucker, Entzündungszeichen und anderen Parametern im Urin.
    • Sedimentanalyse – Mikroskopische Untersuchung des Urins auf Zellen, Kristalle und Bakterien.
    • Albumin und Gesamteiweiß im Urin – Frühe Hinweise auf eine mögliche Schädigung der Nierenfilter.
    • Mikroalbuminurie – Sehr geringe Mengen Eiweiß im Urin als Frühzeichen von Nierenschäden bei Diabetes oder Bluthochdruck.
    • Urinzytologie – Untersuchung von Urinzellen auf bösartige Veränderungen (z. B. Blasenkrebs).
    • Urinkultur – Laboruntersuchung zum Nachweis von Bakterien bei Verdacht auf eine Blasenentzündung und Antibiogramm zur Feststellung des geeigneten Antibiotikums.
  • Blutuntersuchung
  • Hormon- und Regulationswerte
    • Renin-Aldosteron-System – Hormone zur Blutdruckregulation, wichtig bei bestimmten Nierenerkrankungen.
    • Parathormon (PTH) – Hormon, das den Calciumstoffwechsel beeinflusst, bei chronischer Nierenschwäche oft verändert.
    • Erythropoetin – Hormon zur Blutbildung, das bei Nierenschwäche oft vermindert ist.
  • Tumormarker (nur bei Verdacht auf Krebs)

Medizingerätediagnostik

Welcher Arzt hilft Ihnen?

Der Verdacht auf eine Erkrankung des Harnsystems wird in der Regel durch den Hausarzt (Allgemeinmediziner oder Internist) gestellt. Für eine weiterführende Diagnostik und Therapie ist der Facharzt für Urologie (Urologe) zuständig.

Je nach Befund kann zusätzlich die Mitbetreuung durch Nephrologen, Gynäkologen, Radiologen oder Chirurgen erforderlich sein – insbesondere bei komplexen oder wiederkehrenden Erkrankungen.