Harnsteine (Urolithiasis) – Ursachen

Pathogenese (Krankheitsentstehung)

Die Harnsteinbildung ist ein komplexer, multifaktorieller Prozess, der durch verschiedene metabolische, chemische und anatomische Faktoren beeinflusst wird. Obwohl die genaue Ursache der Harnsteinbildung bislang nicht vollständig geklärt ist, spielen sowohl Kristallisation als auch Kolloidbildung eine zentrale Rolle.

Theorien der Harnsteinbildung

Es existieren zwei Haupttheorien, die die Entstehung von Harnsteinen erklären:

  1. Kristallisationstheorie:
    • Diese Theorie geht davon aus, dass Harnsteine durch die Kristallisation von Harnsalzen in einer übersättigten Lösung entstehen. Wenn der Urin mit bestimmten Substanzen wie Calciumoxalat, Harnsäure oder Phosphaten übersättigt ist, beginnen sich Kristalle zu bilden. Diese Kristalle wachsen mit der Zeit, aggregieren und bilden schließlich größere Steine.
  2. Kolloidtheorie:
    • Nach dieser Theorie haften sich Harnsalze an harnpflichtige organische Substanzen an, die als Matrix für die Steinbildung dienen. Die Harnsalze lagern sich auf dieser organischen Matrix ab, was zur Bildung von Konkrementen führt.

Kombination der Theorien

Wahrscheinlich liegt die Wahrheit in einer Kombination beider Theorien. Eine übersättigte Harnlösung ist eine notwendige Voraussetzung für die Steinbildung. Kristalle bilden sich zunächst in der Lösung und lagern sich dann an harnpflichtige organische Substanzen an, die als Kristallisationskeim dienen.

Zusammensetzung der Harnsteine

Die Zusammensetzung der Harnsteine variiert und hängt von der jeweiligen Stoffwechsellage des Patienten ab. Die häufigsten Steine bestehen aus Calciumoxalat, aber auch andere Substanzen wie Harnsäure, Calciumphosphat und Struvit können Steine bilden.

  • Calciumoxalatsteine: Sie machen etwa 80 % der Harnsteine aus und treten häufig bei einer erhöhten Calciumausscheidung oder bei einer erhöhten Oxalatausscheidung auf.
  • Harnsäuresteine: Diese Steine entstehen häufig bei saurer Urinausscheidung und machen etwa 10 % der Harnsteine aus. Sie deuten oft auf eine Störung des Säure-Basen-Haushalts hin.
  • Calciumphosphatsteine (Carbapatit): Diese Steine bestehen aus Calciumphosphat und machen etwa 8 % der Harnsteine aus. Sie treten bei einem alkalischen Urin auf und sind oft mit einer Störung des Säure-Basen-Haushalts verbunden.
  • Struvitsteine (Magnesium-Ammonium-Phosphat): Diese sogenannten Infektsteine machen etwa 2 % der Harnsteine aus und entstehen als Folge von bakteriellen Harnwegsinfektionen. Struvitsteine können schnell wachsen und eine erhebliche Größe erreichen.
  • Zystinsteine: Diese seltene Form von Harnsteinen tritt aufgrund einer erblichen Stoffwechselstörung auf, die zu einer erhöhten Zystinausscheidung führt.

Die Zusammensetzung der Steine gibt Hinweise auf metabolische Störungen des Patienten. Steine, die keine Calciumoxalate enthalten, sind oft größer und können mit einem höheren Risiko für Komplikationen verbunden sein. Dazu zählen besonders Harnsäuresteine, Calciumphosphatsteine und Struvitsteine.

Harnsteine ohne Calciumoxalat gehen mit einem erhöhten Risiko für Komplikationen einher, da solche Steine sehr groß werden können. Dabei handelt es sich in ca. 10 % der Fälle um Steine aus Harnsäure, in 8 % aus Carbapatit und in 2 % der Fälle aus Struvit, Brushit (Calciumhydrogenphosphat-Dihydrat) und Zystin. Am größten waren die seltenen Steine: Struvit (7,9 mm), Zystin (6,8 mm) und Brushit (6,2 mm). Im Vergleich dazu hatten Steine mit Calciumoxalat-Monohydrat im Schnitt einen Durchmesser von 3,6 mm, solche mit Calciumoxalat-Dihydrat von 4,5 mm [6].

Weitere pathophysiologische Faktoren

1. Übersättigung des Urins

Eine übersättigte Lösung ist eine notwendige Voraussetzung für die Harnsteinbildung. Der Urin muss mit Harnsalzen wie Calcium, Oxalat oder Harnsäure so stark übersättigt sein, dass die Substanzen nicht mehr vollständig gelöst bleiben. Dies führt zur Kristallisation der Substanzen, die sich zu größeren Steinen verbinden können.

2. Veränderungen des Säure-Basen-Haushalts

Störungen im Säure-Basen-Haushalt spielen eine wesentliche Rolle bei der Entstehung bestimmter Harnsteine. Harnsäuresteine und Calciumphosphatsteine weisen oft auf eine Azidose (Säureüberschuss) oder Alkalose (Basenüberschuss) hin, welche die Kristallisation der entsprechenden Substanzen fördert.

Klinische Manifestation

Leitsymptome

  • Nierenkolik: Heftige, wellenförmige Schmerzen in der Flanke oder im Unterbauch, die oft in die Leistengegend ausstrahlen.
  • Hämaturie (Blut im Urin): Kann durch die mechanische Reizung oder Verletzung der Harnwege durch den Stein verursacht werden.
  • Dysurie (Schmerzen beim Wasserlassen): Vor allem bei Steinen, die im Harnleiter oder der Harnblase lokalisiert sind.

Fortgeschrittene Symptome

  • Harnwegsinfektionen: Durch den Stein verursachte Harnstauungen begünstigen bakterielle Infektionen der Harnwege.
  • Hydronephrose: Ein anhaltender Harnstau durch blockierte Harnleiter kann zu einer Erweiterung des Nierenbeckens und einer Schädigung des Nierengewebes führen.

Zusammenfassung und klinische Relevanz

Die Entstehung von Harnsteinen (Urolithiasis) ist ein komplexer Prozess, der von einer Übersättigung des Urins mit bestimmten Salzen und der Anwesenheit einer organischen Matrix abhängt. Calciumoxalatsteine sind die häufigste Form, aber auch andere Steine wie Harnsäuresteine, Calciumphosphatsteine und Struvitsteine spielen eine klinisch bedeutende Rolle. Störungen des Säure-Basen-Haushalts und eine übersättigte Lösung sind zentrale Mechanismen, die zur Kristallbildung führen. Nierenkoliken, Hämaturie und Infektionen gehören zu den typischen Symptomen dieser Erkrankung, die unbehandelt zu schweren Komplikationen wie Hydronephrose und Niereninsuffizienz (gestörte Nierenfunktion) führen können.

Ätiologie (Ursachen)

Biographische Ursachen

  • Genetische Erkrankungen
    • Cystinurie – genetisch bedingte Stoffwechselerkrankung mit autosomal-rezessivem Erbgang; führt zu einer erhöhten Ausscheidung der Aminosäure Cystin, sowie den verwandten Aminosäuren Arginin, Lysin und Ornithin im Urin
    • Fructose-Transporter-Gens SLC2A9: genetisch bedingte Störung der renalen Ausscheidung der Harnsäure auf Grund einer Genvariante [1]
    • Hereditäre Hyperoxalurie (primäre Hyperoxalurie) – angeborene Stoffwechselstörung mit autosomal-rezessivem Erbgang, bei der zu viel Oxalat im Urin vorkommt
    • Infantile Hyperkalzämie (infantile Hypercalcämie) – genetische Erkrankung mit autosomal-rezessivem Erbgang; Manifestationsalter: Kleinkindalter, Neugeborenenzeit; Kinder entwickeln nach Gabe höheren Dosen von Vitamin D zur Rachitisprophylaxe zum Teil eine symptomatische Hypercalcämie bei supprimiertem Parathormon (PTH) sowie eine Hypercalciurie (vermehrte Ausscheidung von Calcium im Urin) und Nephrokalzinose (Ansammlung multipler kleiner, strahlendichter Verkalkungen, die sich im Nierenparenchym verteilen)
    • Lesch-Nyhan-Syndrom (LNS; Synonyme: Hyperurikämie-Syndrom; Hyperurikose) – X-chromosomal-rezessiv vererbte Stoffwechselerkrankung aus dem rheumatischen Formenkreis (Störung im Purinstoffwechsel)
    • Mukoviszidose (Zystische Fibrose) – genetische Erkrankung mit autosomal-dominantem Erbgang, die durch die Produktion von zu zähmen Sekret in verschiedenen Organen gekennzeichnet ist.
    • Renale tubuläre Azidose (RTA) – genetische Erkrankung mit autosomal-rezessivem Erbgang, die zu einem Defekt Defekt der H+-Ionensekretion im Tubulussystem der Niere führt und infolgedessen zu einer Demineralisation des Knochens (Hypercalciurie und Hyperphosphaturie/vermehrte Ausscheidung von Calcium und Phosphat im Urin)
    • Xanthinurie – angeborene Stoffwechselstörung mit autosomal-rezessivem Erbgang, Störung im Purinstoffwechsel mit stark reduzierter Aktivität der Xanthinoxidase
    • 2,8-­Dihydroxyadeninurie (Mangel an Arginin-Phosphoribosyltransferase (APRT); autosomal-rezessiver Erbgang
  • Schwangerschaften – für Nulligravidae 5,2 % und steigert sich auf 12,4% bei Frauen mit drei oder mehr Schwangerschaften [3]
  • Berufe Ärzte, insbesondere Chirurgen (wg. schlechter Flüssigkeitsbilanz)

Verhaltensbedingte Ursachen

  • Ernährung
    • Dehydrierung (Austrocknung des Körpers) – durch Flüssigkeitsverlust oder mangelnde Flüssigkeitsaufnahme (Trinkmenge)
    • Fehlernährung
    • Proteinreiche (eiweißreiche) Ernährung (tierisches Protein)
    • Fettreiche Ernährung
    • Hohe Aufnahme oxalsäurehaltiger Lebensmittel (Mangold, Kakaopulver, Spinat, Rhabarber)
    • Hohe Aufnahme von Calcium
    • Hohe Purinaufnahme (Innereien, Hering, Makrele)
    • Hoher Kochsalzkonsum (z. B. Konserven und Fertiggerichte)
    • Fructosehaltige Getränke [2] führen bei circa 5 % der Patienten zum Anstieg der Harnsäure-Serumspiegel – wegen Vorliegen einer Genvariante des Fructose-Transporter-Gens SLC2A9 – diese führt zur Störung der renalen Ausscheidung der Harnsäure [1]
    • Mikronährstoffmangel (Vitalstoffe) – siehe Prävention mit Mikronährstoffen
  • Genussmittelkonsum
    • Alkohol (Frau: > 20 g/Tag; Mann > 30 g/Tag)
    • Tabak (Rauchen)
  • Körperliche Aktivität
    • Bewegungsmangel
    • Immobilität bzw. Immobilisation
  • Psycho-soziale Situation
    • Chronischer Stress (Dauerstress)
  • Übergewicht (BMI ≥ 25; Adipositas)

Krankheitsbedingte Ursachen

  • Anorexia nervosa (Magersucht)
  • Benigne Prostatahyperplasie – gutartige Vergrößerung der Vorsteherdrüse (Prostataadenom)
  • Gastrointestinale Funktionsstörungen (Hochrisiko-Harnstein-Patienten: z. B. chronische Pankreatitis, Colitis ulcerosa, Dünndarmresektion, Morbus Crohn, Leberzirrhose, Zöliakie)
  • Harnabflussstörungen bzw. Harntransportstörungen
  • Harnwegsinfekte (HWI)
  • Hyperparathyreoidismus, primärer ((pHPT) – Nebenschilddrüsenüberfunktion
  • Kolitis (Darmentzündung)
  • Maligne Erkrankungen (Krebserkrankungen), z. B. Prostatakarzinom, Hämoblastosen (bösartige Erkrankungen des blutbildenden Systems), osteolytische Knochentumoren
  • Metabolische Azidose (stoffwechselbedingte Übersäuerung) → Hemmung der proximal tubulären Phosphatresorption → vermehrte Phosphatfreisetzung aus dem Knochen und gesteigerte intestinale Phosphataufnahme → Erhöhung der renalen (nierenbedingten) Phosphatausscheidung
  • Metabolisches Syndrom – klinische Bezeichnung für die Symptomkombination Adipositas (Übergewicht), Hypertonie (Bluthochdruck), erhöhte Nüchternglucose (Nüchternblutzucker) und Nüchterninsulin-Serumspiegels (Insulinresistenz) und Fettstoffwechselstörung (erhöhte VLDL-Triglyceride, erniedrigtes HDL-Cholesterin). Des Weiteren ist häufig auch eine Koagulationsstörung (vermehrte Gerinnungsneigung), mit einem erhöhten Risiko für Thromboembolien nachzuweisen.
  • Neurogene Blase – Funktionsstörung der Harnblase aufgrund einer Störung im Nervensystem
  • Tumorlyse-Syndrom – potenziell lebensbedrohlicher Zustand, der beim raschen Zerfall von Tumoren (meist unter chemotherapeutischer Behandlung) auftritt

Labordiagnosen – Laborparameter, die als unabhängige Risikofaktoren gelten

  • HDL-Cholesterin ↓ (je nach Studie < 40 bzw. 45 mg/dl bei Männern und < 50 bzw. 60 mg/dl bei Frauen) [5]
  • Hypercalcämie (Calciumüberschuss)
  • Hypercalciurie – erhöhte Calciumsausscheidung im Urin
  • Hyperoxalurie (zu hoher Blutoxalatspiegel) – bei verschiedenen Erkrankungen wie Morbus Crohn (chronisch-entzündliche Darmerkrankung), Pankreasinsuffizienz (Funktionsverminderung der Bauchspeicheldrüse) oder nach operativer Therapie bei Adipositas (Fettsucht)
  • Hyperurikämie – erhöhter Harnsäurespiegel im Blut
  • Triglyceride > 150 mg/dl [5]

Medikamente

  • Chronische Antibiotikatherapie – Medikamente zur Therapie von bakteriellen Infekten; drei bis zwölf Monate nach der Verordnung steig das Risiko für Nierensteine um 30-130 % [4]:
    • Sulfonamide (z. B. Sulfamethoxazol) (Odds Ratio, OR 2,3)
    • Cephalosporinen (OR 1,9)
    • Fluorchinolonen (OR 1,7)
    • Nitrofurantoin (OR 1,7)
    • Breitspektrum-Penicilline (OR 1,3)
  • Laxantienabusus – Abhängigkeit von Abführmitteln
  • Vitamin D-Intoxikation (z. B. wg. Rachitis-Prophylaxe/Vorbeugung der Knochenerweichung bei Kindern)

Operationen

  • Urologische Eingriffe bzw. Operationen

Weiteres

  • Einzelnierensituation
  • Schwangerschaft – schwanger gewesen zu sein, führt zu einer Verdopplung des Erkrankungsrisikos

Literatur

  1. Vitart V et al.: SLC2A9 is a newly identified urate transporter influencing serum urate concentration, urate excretion and gout. Nat Genet. 2008 Apr;40(4):437-42. Epub 2008 Mar 9.
  2. Taylor EN, Curhan GC.: Fructose consumption and the risk of kidney stones. Kidney Int. 2008 Jan;73(2):207-12. Epub 2007 Oct 10.
  3. Reinstatler L et al.: Association of pregnancy with stone formation among US women: A National Health and Nutrition Examination Survey analysis 2007-2012. J Urol 2017, online 23. Februar; doi: 10.1016/j.juro.2017.02.3233
  4. Tasian GE et al.: Oral Antibiotic Exposure and Kidney Stone Disease. J Am Soc Nephrol 2018 Jun;29(6):1731-1740. doi: 10.1681/ASN.2017111213. Epub 2018 May 10
  5. Besiroglu H et al.: Association between blood lipid profile and urolithiasis: A systematic review and meta-analysis of observational studies. Int J Urol 2018, online 27. August https://doi.org/10.1111/iju.13781
  6. Keller EX et al.: Stone composition independently predicts stone size in 18,029 spontaneously passed stones. World J Urol 2019;37:2493–2499; https://doi.org/10.1007/s00345-018-02627-0