Leistenschmerzen – Einleitung
Leistenschmerzen (Inguinalgie) sind ein häufiges Leitsymptom in der orthopädischen, chirurgischen und sportmedizinischen Praxis. Sie können durch Erkrankungen oder Verletzungen verschiedener anatomischer Strukturen im Bereich der Leiste verursacht werden – darunter Muskeln, Sehnen, Nerven, Gefäße, Gelenke und innere Organe. Die Schmerzen reichen von akuten, stechenden Beschwerden bis zu chronischen, dumpfen Schmerzsyndromen.
Synonyme und ICD-10: Inguinalgie (Leistenschmerz); ICD-10-GM R10.2: Schmerzen im Becken (Beckenschmerz) und Damm
Leistenschmerzen treten sowohl bei körperlich aktiven Personen (z. B. Sportlern) als auch bei Patienten mit internistischen oder urologischen Grunderkrankungen auf. Aufgrund der komplexen Anatomie der Region sind Differentialdiagnosen vielfältig und erfordern eine sorgfältige klinische und bildgebende Abklärung.
Anatomie und Physiologie der Leistenregion
Muskulatur und Sehnen
- Musculus obliquus externus abdominis (äußerer schräger Bauchmuskel) – bildet die vordere Begrenzung des Leistenkanals.
- Musculus obliquus internus abdominis (innerer schräger Bauchmuskel) und Musculus transversus abdominis (querverlaufender Bauchmuskel) – verstärken die hintere Wand des Leistenkanals.
- Musculus adductor longus (langer Schenkelanzieher), Musculus adductor brevis (kurzer Schenkelanzieher), Musculus gracilis (schlanker Muskel) – häufige Ursprungsorte sportassoziierter Leistenschmerzen (Adduktorensyndrom).
- Musculus iliopsoas (Hüftbeuger) – Hauptbeuger des Hüftgelenks; häufige Schmerzquelle bei Überlastung oder Entzündung (Psoas-Tendinopathie).
Leistenkanal (Canalis inguinalis)
- Schräg verlaufender Kanal der vorderen Bauchwand; führt beim Mann den Samenstrang (Funiculus spermaticus) und bei der Frau das runde Mutterband (Ligamentum teres uteri).
- Klinisch bedeutsam als Prädilektionsstelle für Leistenhernien (Leistenbrüche).
Gefäße und Nerven
- Arteria und Vena femoralis (Oberschenkelarterie und -vene), Arteria und Vena epigastrica inferior (untere Bauchwandsgefäße).
- Nervus ilioinguinalis (Leistennerv), Nervus genitofemoralis (Geschlechts-Oberschenkelnerv), Nervus obturatorius (Verschließnerv) – mögliche neuropathische Schmerzquellen.
Gelenke/knöcherne Strukturen
- Hüftgelenk (Articulatio coxae) – z. B. bei Coxarthrose (Hüftarthrose) oder Femoroacetabulärem Impingement (Einklemmung zwischen Oberschenkelkopf und Hüftpfanne).
- Symphyse (Schambeinfuge) – z. B. bei Symphysitis (Entzündung der Schambeinfuge) oder Osteitis pubis (Schambeinentzündung).
Viszerale Strukturen (innere Organe)
- Urogenitalorgane (z. B. Hoden, Nebenhoden, Samenstrang, Blase, Harnleiter).
- Darmanteile – insbesondere bei Leistenhernien (Leistenbrüchen) oder entzündlichen Darmerkrankungen beteiligt.
Formen der Leistenschmerzen
- Akut: häufig nach Überlastung, abrupten Bewegungen, Zerrungen oder Traumata (Verletzungen).
- Chronisch (> 3 Monate): meist multifaktoriell (degenerative Hüftgelenkserkrankung, chronische Sehnenreizungen, Nervenkompressionen, Weichteilveränderungen).
Häufige Diagnosen
- Adduktorentendinopathie (Sehnenreizsyndrom) oder -ruptur (Sehnenriss)
- Coxarthrose (Hüftarthrose)
- FAI (Femoroacetabuläres Impingement = Einklemmung zwischen Hüftkopf und -pfanne)
- Iliopsoas-Syndrom (Hüftbeugersehnen- oder Schleimbeutelentzündung)
- Leistenhernie (Leistenbruch) / Schenkelhernie (Schenkelbruch)
- Neuralgien (Nervenschmerzen, z. B. Ilioinguinalisneuralgie, Genitofemoralisneuralgie)
- Osteitis pubis (Schambeinentzündung)
- Urologisch (Epididymitis = Nebenhodenentzündung, Orchitis = Hodenentzündung, Funikulitis = Samenstrangentzündung); gynäkologisch (z. B. Endometriose, Adnexitis = Eileiter- und Eierstockentzündung)
Differentialdiagnosen
- Muskuloskelettal: Adduktorensyndrom, Hüftarthrose, Symphysitis, Muskelzerrung, Iliopsoas-Tendinopathie (Hüftbeugersehnenentzündung), Stressfrakturen (Überlastungsbrüche).
- Viszeral: Inguinal- oder Femoralhernie (Leisten- oder Schenkelbruch), Appendizitis (Blinddarmentzündung), Urolithiasis (Harnsteine), Harnwegsinfekt, Prostatitis (Prostataentzündung), Blasenentzündung.
- Neurologisch: Kompressionssyndrome (Einklemmung) der oben genannten Nerven.
- Gefäße: Varikozele (Krampfaderbildung am Hoden), Aneurysmen (Gefäßaussackungen), Thrombosen (Gefäßverschlüsse).
- Gynäkologisch: Adnexitis (Eileiter- und Eierstockentzündung), Endometriose, Ovarialzysten-Torsion (Verdrehung einer Eierstockzyste).
Epidemiologie
- Geschlecht: Männer häufiger betroffen (u. a. wegen Hernienprävalenz und sportlicher Belastung).
- Gipfel: 20.-50. Lebensjahr (v. a. sportlich aktive Personen).
- Sportarten mit hoher Adduktorenbelastung: erhöhte Lebenszeitprävalenz.
- Leistenhernien: häufig; Verhältnis Männer : Frauen etwa 9 : 1.
Verlauf und Prognose
Verlauf
- Akute muskuläre Ursachen heilen bei adäquater Therapie meist in 2-6 Wochen
- Chronische Beschwerden können durch Fehlbelastung, Dysbalancen oder unerkannte Hernien bestehen bleiben
- Viszerale Ursachen erfordern häufig operative oder antibiotische Therapie.
Prognose
- Gut bei früher Diagnostik und kausaler Therapie
- Bei Sportlern teils wiederkehrend
- Hernienrezidive (Rückfälle) nach Operation meistens < 5 % (technik- und risikofaktorabhängig).
Fazit für die Praxis
Orthopädisch-muskuloskelettale Ursachen
- Häufige Auslöser sind Adduktorentendinopathien (Sehnenreizungen), Iliopsoas-Syndrome (Hüftbeugersehnen- oder Schleimbeutelentzündungen), Coxarthrosen (Hüftarthrosen) und Osteitiden der Symphyse (Schambeinentzündungen).
- Die Sonographie (Ultraschall) und bei Bedarf Magnetresonanztomographie (MRT) sind zentrale bildgebende Verfahren zur Differenzierung muskulärer und gelenkbezogener Ursachen.
- Eine gezielte physiotherapeutische Behandlung, Entlastung, Dehnungs- und Kräftigungstherapie sowie ggf. infiltrative Maßnahmen (z. B. Lokalanästhetika, Kortikoide) können indiziert sein.
Neurologische Ursachen
- Nervus-ilioinguinalis- oder Nervus-genitofemoralis-Neuralgien (Einklemmungen bzw. Reizungen von Nerven) verursachen häufig brennende, ziehende Leistenschmerzen.
- Diagnostisch sind klinische Prüfung der Sensibilität und ggf. Nervenleituntersuchungen hilfreich.
- Die Therapie erfolgt konservativ (Analgetika, Infiltration, Schonung); selten ist eine operative Neurolyse erforderlich.
Viszerale Ursachen
- Leisten- und Schenkelhernien (Leisten- bzw. Schenkelbrüche) stellen eine häufige Ursache dar.
- Die klinische Untersuchung im Stehen sowie eine Sonographie der Leistenregion sind entscheidend.
- Bei symptomatischen oder eingeklemmten Hernien ist eine operative Versorgung indiziert.
Urologische Auslöser
- Basisdiagnostik: Sonographie (Ultraschalluntersuchung) von Skrotum (Hoden und Nebenhoden) und Harntrakt (Harnwege).
- Epididymitis (Nebenhodenentzündung), Hodentorsion (Verdrehung des Hodens) und distaler Ureterstein (Harnleiterstein im unteren Abschnitt) gehören zu den wichtigsten Ursachen akuter Leistenschmerzen.
- Hodentorsion: sofortige operative Exploration (chirurgische Freilegung) – Notfall.
- Akute Epididymitis: konservative Behandlung durch Hochlagerung, Kühlung, Antiphlogistika (entzündungshemmende Medikamente) und Antibiotika.
- Distaler Ureterstein < 7 mm, normale Retentionswerte (Nierenwerte), kein Infekt → primär analgetisch-konservative Therapie (schmerzstillend).
- Dolente Varikozele (schmerzhafte Krampfadern am Hoden): ggf. chirurgische Therapie.
- Hydrozele (Wasserbruch) und Spermatozele (Samenblasenzyste): selten schmerzhaft, meist keine Behandlung erforderlich.
Gynäkologische Ursachen
- Adnexitiden (Eileiter- und Eierstockentzündungen), Endometrioseherde und Ovarialzysten-Torsionen (Verdrehung von Eierstockzysten) sind relevante Differenzialdiagnosen bei Frauen.
- Die Sonographie (Ultraschalluntersuchung) des kleinen Beckens ist das Basisverfahren zur Abklärung.
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