Ursachen
Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS)

Pathogenese (Krankheitsentstehung)

Der genaue Entstehungsmechanismus des ADHS ist noch nicht genau geklärt.

Fest steht jedoch, dass es sich um eine multifaktorielle Genese (Entstehung) handelt. Dabei spielen vor allem genetische Faktoren eine Rolle. Aber auch exogene (äußere) Faktoren wie Schwangerschafts- oder Geburtskomplikationen, Erkrankungen des ZNS (Zentralnervensystem) oder Nikotinabusus (Tabakabhängigkeit) der Mutter werden als begünstigende Faktoren vermutet. Daneben spielt mit einiger Sicherheit auch eine ungünstige soziale Umgebung eine Rolle.

Pathogenetisch liegt bei den betroffenen Kindern eine verminderte Bindungskapazität im Bereich der Dopaminrezeptoren (Empfangseinheit für Signale durch den Botenstoff Dopamin) im Gehirn vor. Weiterhin liegen auch im noradrenergen System sowie im strukturellen Aufbau des Gehirns pathologische Veränderungen, vor allem im Bereich des präfrontalen Kortex (Teil des Frontallappens der Großhirnrinde (Cortex), der sich an der Stirnseite des Gehirns befindet) oder der Basalganglien (Gruppe von Endhirn- und Zwischenhirnkernen) vor.  

Möglicherweise besteht ein Zusammenhang zwischen Inflammation (Entzündung) und Entstehung der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS): Ergebnisse deuten darauf hin, dass Personen mit ADHS tendenziell erhöhte IL-6-Spiegel und verringerte TNF-α-Spiegel aufweisen. Um unsere Ergebnisse zu bestätigen, sind größere Längsschnittstudien zur Erfassung potenzieller Störfaktoren und komorbider Psychopathologie erforderlich [33].

Eine Metaanalyse stellt bei Kindern (Odds Ratio [OR]: 1,20) als auch bei Erwachsenen (OR: 1,55) einen Zusammenhang zwischen ADHS und Adipositas her. Offen bleibt dabei die Kausalität [17].

Ätiologie (Ursachen)

Biographische Ursachen

  • Genetische Belastung: Zwillings- und Adoptionsstudien weisen eine Erblichkeit der ADHS von 60-80 % aus [16]; durch Eltern (bei Familienangehörigen ersten Grades mindestens 20 % [15]).
    Bei Nachkommen von Müttern mit ADHS tritt die Erkrankung häufiger auf als bei Kindern von betroffenen Vätern; bei Söhnen zweier betroffener Eltern war sie mit 42 % am höchsten, 25 % betrug sie bei Töchtern [25].
    • Kreuzaggretation: Jüngere Geschwister von ADHS-Kindern hatten auch ein erhöhtes Risiko, an einer Autismus-Spektrum-Störung (ASD) zu erkranken (Odds Ratio 6,99; 3,42-14,27); jüngere Geschwister von ASD-Kindern erkrankten fast 4-fach häufiger an ADHS (OR 3,70; 1,67-8,21) [20]
    • Genetisches Risiko abhängig von Genpolymorphismen:
      • Gene/SNPs (Einzelnukleotid-Polymorphismus; engl.: single nucleotide polymorphism):
        • Gene: CLOCK
        • SNP: rs1801260 im Gen CLOCK
          • Allel-Konstellation: TT (höheres Risiko)
          • Allel-Konstellation: CC (niedrigeres Risiko)
  • Mutter:
    • Übergewicht/Adipositas in der Schwangerschaft [23]: 
      • BMI (Body-Mass-Index/Körpermasseindex): 25-30: adjustierte Risiko Ratio 1,14 (95-%-Konfidenz­intervall 0,78 bis 1,69) (gegenüber normalgewichtigen Müttern)
      • BMI: 30-35 auf adjustierte Risiko Ratio 1,96 (1,29-2,98) 
      • BMI > 35 auf 1,82 (1,21-2,74). 
    • Rauchen in der Schwangerschaft (epigenetische Programmierung) – Kinder von Schwangeren mit einem positiven Cotininnachweis (Abbauprodukt von Nikotin) erkrankten später zu 9 % häufiger an ADHS [21]
    • Hypothyreose (Schilddrüsenunterfunktion) – vor (Incidence rate differences, IRD = 1,30) oder während (IRD = 0,59) der Schwangerschaft [27]
  • Niedriges Geburtsgewicht
    • ADHS-Risiko steigt bei einer Abweichung von > 2 Standardeinheiten (SD) signifikant um 80 % an, bei 1,5-2 SD um 36 % und bei 1-1,5 SD um 14 % an [14].
    • Geburtsgewicht < 1.000 Gramm [19]
  • Sozioökonomische Faktoren – geringer sozioökonomischer Status [11]
  • Frühgeburt (= Geburt eines Säuglings vor Vollendung der 37. Schwangerschaftswoche (SSW)) – Kinder mit Geburt in der 38. SSW haben ein um 12 % erhöhtes ADHS-Risiko; mit jeder weiteren SSW, die ein Kind zu früh zur Welt kommt, steigt das ADHS-Risiko exponentiell an; Kinder, die in der 33. SSW geboren sind, haben bereits ein um das 3, 5-fache erhöhte Risiko und bei Kindern in der 23.-24. SSW ist das Risiko 12-fach erhöht [14].

Verhaltensbedingte Ursachen 

  • Ernährung
    • Proinflammatorische (entzündungsfördernde) Ernährung während der Schwangerschaft [31]
      • Einfache, leicht resorbierbare Kohlenhydrate (Mono- und Disaccharide)
      • Omega-6-Fettsäure Arachidonsäure (v. a. enthalten in Thunfisch und Schweinefleisch)
      • Trans-Fettsäuren (enthalten in frittierten Produkten, Backwaren, Süßigkeiten, Margarine, Milchprodukte)
      • Gluten-haltige Lebensmittel (enthalten in Getreide wie Weizen, Roggen, Gerste, Dinkel, Grünkern und Hafer)
    • Lakritzkonsum (Lakritze; während der Schwangerschaft mehr als 500 mg Glycyrrhizinsäure) (3,3-fach häufiger ADHS) [18]
    • Mikronährstoffdefizit an ungesättigten Fettsäuren (Omega-3-/Omega-6-Fettsäuren) [7, 8] – Schon in der Schwangerschaft nimmt das Ernährungsverhalten der werdenden Mutter Einfluss auf die psychomentale Entwicklung des Ungeborenen. So übt eine Supplementierung mit Omega-3-Fettsäuren in diesem Zeitraum möglicherweise einen positiven Effekt auf die kindliche Hirnentwicklung und damit auch auf die Entwicklung von ADHS aus [29, 30].
    • Mikronährstoffdefizit an Zink [9, 10]
    • Mikronährstoffmangel (Vitalstoffe) – siehe Prävention mit Mikronährstoffen
  • Genussmittelkonsum
    • Alkohol – während der Schwangerschaft
    • Tabak (Rauchen) – während der Schwangerschaft
  • Stillen – Ist das Kind geboren, reduziert Stillen das Risiko für ADHS am deutlichsten [32]. 
  • Psycho-soziale Situation
    • Soziale Belastungen des Kindes wie beispielsweise Vernachlässigung
    • Stress während der Schwangerschaft [31]

Krankheitsbedingte Ursachen

  • Epilepsie – rezidivierende (wiederkehrende) Krampfanfälle
  • Erkrankungen der ZNS (zentrales Nervensystem; Gehirn und Rückenmark)
  • Gestationsdiabetes mellitus (Schwangerschaftsdiabetes) [11]
  • Hirntumoren
  • Hyperthyreose (Schilddrüsenüberfunktion)
  • Infektionen während der Schwangerschaft
  • Komplikationen in der Schwangerschaft oder bei der Geburt (z. B. Sauerstoffmangel)
  • Neurodermitis (es wird vermutet, dass ein Zusammenhang zwischen den beiden Erkrankungen besteht)
  • Schädel-Hirn-Trauma (SHT) – schweres SHT erhöht das ADHS Risiko für Minderjährige: ca. 36 % der betroffenen Kinder und Jugendlichen haben nach einem Jahr ein ADHS [28]
  • ZNS-Verletzungen (z. B. Hirninfarkt/ischämischer Schlaganfall, Epilepsie/Krampfleiden)

Labordiagnosen – Laborparameter, die als unabhängige Risikofaktoren gelten

  • Hyperhomocysteinämie (erhöhte Blutwerte an Homocystein)
  • Eisenmangelanämie (Blutarmut durch Eisenmangel) vor der 31. Schwangerschaftswoche: 9,3 % der anämischen Mütter versus 7,1 % der gesunden Mütter (Odds Ratio 1,37; 1,14-1,64) [22]

Medikamente

  • Beruhigungsmittel (vor allem Benzodiazepine) während der Schwangerschaft
  • Valproat während der Schwangerschaft [24]
  • Paracetamol (Acetaminophen) – Korrelation von mütterlichem, pränatalem Paracetamol-Gebrauch mit einem erhöhten ADHS-Risiko der Kinder [26]
  • Pränatale ("vor der Geburt") Gabe von Glucocorticoiden (etablierte Therapie bei drohender Frühgeburt zur Förderung der Lungenreifung/Prävention eines Atemnotsyndroms) [12]

Literatur

  1. Bilici M, Yildirim F, Kandil S et al.: Double-blind, placebo-controlled study of zinc sulphate in the treatment of attention deficit hyperactivity disorder. Prog Neuropsychopharmacol Biol Psychiatry 2004;28(1):181-90
  2. Richardson AJ: The importance of omega-3-fatty acids for behavior, cognition and mood. Scandinavian Journal of Nutrition/Naringsforskning 2003; 47(2):92-8
  3. Richardson AJ: Clinical trials of fatty acid treatment in ADHD, dyslexia, dyspraxia, and the autistic spectrum. Prostaglandins Leukot Essent Fatty Acids 2004; 70(4):383-90
  4. Ross BM, McKenzie I, Glen I, Bennett CP: Increased levels of ethane, a non-invasive marker of n-3-fatty acid oxidation, in breath of children with attention deficit hyperactivity disorder. Nutr Neurosci 2003;6(5):277-81
  5. Young GS, Maharaj NJ, Conquer JA: Blood phospholipid fatty acid analysis of adults with and without attention deficit/hyperactivity disorder. Lipids 2004;39(2):117-23
  6. Kidd PM: Attention Deficit/Hyperactivity Disorder (ADHD) in Children: Rationale for Ist Integrative Management. Alternative Medicine Review 5 (5) 2000: 402-428.
  7. Gow RV, Matsudaira T, Taylor E, Rubia K, Crawford M, Ghebremeskel K, Ibrahimovic A, Vallée-Tourangeau F, Williams LM, Sumich A (2009). Total red blood cell concentrations of omega-3 fatty acids are associated with emotion-elicited neural activity in adolescent boys with attention-deficit hyperactivity disorder. Prostaglandins Leukot Essent Fatty Acids 80 (2-3): 151-156.
  8. Johnson M, Ostlund S, Fransson G, Kadesjö B, Gillberg C: Omega-3/omega-6 fatty acids for attention deficit hyperactivity disorder: a randomized placebo-controlled trial in children and adolescents. J Atten Disord. 2009 Mar;12(5):394-401. doi: 10.1177/1087054708316261.
  9. Uçkardeş Y, Ozmert EN, Unal F, Yurdakök K: Effects of zinc supplementation on parent and teacher behaviour rating scores in low socioeconomic level Turkish primary school children. Acta Paediatr. 2009 Apr;98(4):731-6. doi: 10.1111/j.1651-2227.2008.01186.x.
  10. Yorbik O, Ozdag MF, Olgun A, Senol MG, Bek S, Akman S: Potential effects of zinc on information processing in boys with attention deficit hyperactivity disorder. Prog Neuropsychopharmacol Biol Psychiatry. 2008 Apr 1;32(3):662-7..
  11. Schmitt J, Romanos M: Prenatal and Perinatal Risk Factors for Attention-Deficit/Hyperactivity Disorder. Arch Pediatr Adolesc Med. 2012;166(11):1074-1075. doi:10.1001/archpediatrics.2012.1078
  12. Khalife N, Glover V, Taanila A, Ebeling H, Järvelin MR, Rodriguez A: Prenatal Glucocorticoid Treatment and Later Mental Health in Children and Adolescents. PloS ONE (2013; doi: 10.1371/journal.pone.0081394)
  13. CHudal R et al.: Parental Age and the Risk of Attention-Deficit/Hyperactivity Disorder: A Nationwide, Population-Based Cohort Study. doi: http://dx.doi.org/10.1016/j.jaac.2015.03.013
  14. Sucksdorff M et al.: Preterm Birth and Poor Fetal Growth as Risk Factors of Attention-Deficit/Hyperactivity Disorder. Pediatrics 2015; online 24. August 2015 (10.1542/peds.2015-1043)
  15. Faraone SV et al.: Molecular Genetics of Attention-Deficit/Hyperactivity Disorder. Biol Psychiatry. 2005 Jun 1;57(11):1313-23
  16. Freitag CM, Retz W: Family and Twin Studies in Attention-Deficit Hyperactivity Disorder. In: Retz W, Klein RG: Attention-Deficit Hyperactivity Disorder (ADHD) in Adults. Karger Verlag Basel
  17. Cortese S et al.: Association between ADHD and obesity: A systematic review and meta-analysis. Am J Psychiatry 2016;173(1):34-43
  18. Räikkönen K et al.: Maternal Licorice Consumption During Pregnancy and Pubertal, Cognitive, and Psychiatric Outcomes in Children. Am J Epidemiol 2017;1-12. doi: https://doi.org/10.1093/aje/kww172
  19. Karen J et al.: Mental Health of Extremely Low Birth Weight Survivors: A Systematic Review and Meta-Analysis. Online First Publication, February 13, 2017. http://dx.doi.org/10.1037/bul0000091
  20. Miller M et al.: Sibling Recurrence Risk and Cross-aggregation of Attention-Deficit/Hyperactivity Disorder and Autism Spectrum Disorder. JAMA Pediatr. Published online December 10, 2018. doi:10.1001/jamapediatrics.2018.4076
  21. Sourander A et al.: Prenatal Cotinine Levels and ADHD Among Offspring. Pediatrics March 2019, Volume 143 / Issue 3
  22. Wiegersam AM et al.: Association of Prenatal Maternal Anemia With Neurodevelopmental Disorders JAMA Psychiatry. Published online September 18, 2019. doi:10.1001/jamapsychiatry.2019.2309
  23. Robinson SL et al.: Parental Weight Status and Offspring Behavioral Problems and Psychiatric. Journal of Pediatrics 2020 doi: https://doi.org/10.1016/j.jpeds.2020.01.016 1
  24. Wiggs KK et al.: Anti-seizure medication use during pregnancy and risk of ASD and ADHD in children. Neurlogy October 28, 2020, doi: https://doi.org/10.1212/WNL.0000000000010993
  25. Solberg BS et al.: Sex differences in parent–offspring recurrence of attention-deficit/hyperactivity disorder. Journal of Child Psychology and Psychiatry 2020. https://doi.org/10.1111/jcpp.13368
  26. Chen MH et al.: Prenatal Exposure to Acetaminophen and the Risk of Attention-Deficit/Hyperactivity Disorder: A Nationwide Study in Taiwan. J Clin Psychiatry 2019;80(5):18m12612.doi10.4088/jcp.18m12612 
  27. Peltier MR et al.: Maternal Hypothyroidism Increases the Risk of Attention-Deficit Hyperactivity Disorder in the Offspring Am J Perinatol 2021; 38(02): 191-201 doi: 10.1055/s-0040-1717073
  28. Asarnow RF et al.: Association of Attention-Deficit/Hyperactivity Disorder Diagnoses With Pediatric Traumatic Brain Injury A Meta-analysis. JAMA Pediatr. 2021;175(10):1009-1016. doi:10.1001/jamapediatrics.2021.2033
  29. de Souza AS et al.: Effects of maternal malnutrition and postnatal nutritional rehabilitation on brain fatty acids, learning, and memory. Nutr Rev. 2011 Mar; 69 (3): 132-44. doi: 10.1111/j.1753-4887.2011.00374.x.
  30. Colombo J et al.: Maternal DHA and the development of attention in infancy and toddlerhood. Child Dev. 2004 Jul-Aug;75(4):1254-67. doi: 10.1111/j.1467-8624.2004.00737.x.
  31. Polanska K et al.: Dietary Quality and Dietary Inflammatory Potential During Pregnancy and Offspring Emotional and Behavioral Symptoms in Childhood: An Individual Participant Data Meta-analysis of Four European CohortsBiol Psychiatry. 2021 Mar 15; 89 (6): 550-559. doi: 10.1016/j.biopsych.2020.10.008.
  32. Adams JB et al.: Nutritional and metabolic status of children with autism vs. neurotypical children, and the association with autism severity. Nutr Metab (Lond). 2011 Jun 8; 8 (1): 34. doi: 10.1186/1743-7075-8-34.
  33. Misiak B et al.: Peripheral blood inflammatory markers in patients with attention deficit/hyperactivity disorder (ADHD): A systematic review and meta-analysis Prog Neuropsychopharmacol Biol Psychiatry. 2022 Aug 30;118:110581.
     
Wir helfen Ihnen in jeder Lebenslage
Die auf unserer Homepage für Sie bereitgestellten Gesundheits- und Medizininformationen ersetzen nicht die professionelle Beratung oder Behandlung durch einen approbierten Arzt.
DocMedicus Suche

 
   -
   -
   -
   -
   -
   -
   -
   -
   -
   -
   -
   -
   -
ArztOnline.jpg
 
DocMedicus                          
Gesundheitsportal

Unsere Partner DocMedicus Verlag