Amyotrophe Lateralsklerose – Ursachen

Pathogenese (Krankheitsentstehung)

Motoneurone (motorische Nervenzellen) leiten normalerweise Nervenreize vom Gehirn und Rückenmark (= ZNS, zentrales Nervensystem) zu den Muskeln des Körpers weiter. Jeder Skelettmuskel erhält seine Nervenreize von zwei Nervenzellen, dem 1. Motoneuron (oberes Motoneuron) und dem 2. Motoneuron (unteres Motoneuron). Das 1. Motoneuron entspringt der Großhirnrinde im Gehirn und löst bewusste Bewegungen aus. Es hat einen Axon (Fortsatz), der zum 2. Motoneuron führt. Dieses ist wiederum mit einem Axon mit dem Muskel verbunden. Das untere Motoneuron leitet die Reize vom oberen Motoneuron an den Muskel weiter.

Im Rahmen der ALS-Erkrankung sind beide Motoneuronen geschädigt. Das Zugrundegehen der Motoneurone des Rückenmarks kann auf eine Degeneration bestimmter Hirnareale zurückgeführt werden. Auch lässt sich ein Schwund der Ganglienzellen in motorischen Hirnnervenkernen und dem medullären Vorderhorn nachweisen. Wenn die ersten Motoneurone untergehen, treten zunächst noch keine Lähmungen auf.

Manifeste Paresen (zu erkennende Lähmungen) zeigen sich erst, wenn ca. 30-50 % der Neurone untergegangen sind. Eine frühe Behandlung der Erkrankung ist folglich nur selten möglich, da sich die Krankheit erst im fortgeschrittenen Stadium zeigt. Bei Leistungssportlern lässt sich hingegen durch den frühen Abfall von statistisch erfassbaren Leistungen ein früher Beginn der Krankheit feststellen. Prominentes Beispiel ist der amerikanische Baseballstar Lou Gehrig, bei dem die Krankheit im Alter von 36 Jahren diagnostiziert wurde. Mit 37 Jahren verstarb Lou Gehrig.

Es gibt zunehmend zahlreiche Belege für die Hypothese, dass ALS durch Retroviren ausgelöst wird. Diese haben sich im Verlauf der Evolution ins menschliche Genom "geschlichen" und werden möglicherweise durch Mutationen im Verlauf des Lebens wieder reaktiviert [1].

Möglicherweise ist auch das Protein TDP‑43 an der Pathogenese der ALS beteiligt: eine hohe Konzentration von pathogenen TDP‑43 im Zellplasma kann dazu führen, dass die Entsorgung von TDP‑43 durch Autophagosomen beeinträchtigt ist. Dieses führt dazu, dass die "Selbstreinigung" der Nervenzellen geschwächt wird [7].

Die Degeneration des 1. Motoneurons (= oberes Motoneuron; befinden sich im motorischen Kortex (Hirnrinde)) führt zu folgenden Symptomen:

  • Adduktorenspasmus (Spastik der Adduktorenmuskeln an der Innenseite des Oberschenkels)
  • Ataxie (Gangstörungen)
  • Demenz
  • Epilepsie
  • Harnblaseninkontinenz
  • Paraspastik der Beine (spastische Lähmung beider Beine)
  • Spastik (erhöhter Muskeltonus)
  • Taubheit

Die Degeneration des 2. Motoneurons (unteres Motoneuron; Vorderhorn des Rückenmarks/Impulsgeber für die Muskeln) führt zu folgenden Symptomen:

  • erloschene Eigenreflexe
  • faszikuläre Zuckungen/Faszikulationen (Muskelzuckungen)
  • motorische, periphere Lähmung, die langsam fortschreitet
  • Muskelatrophien (Gewebeschwund der Muskeln)

Ätiologie (Ursachen)

Die Ätiologie der Erkrankung ist unklar. Eine genetische Disposition ist wahrscheinlich. Auch Virus- oder Autoimmunerkrankungen werden diskutiert.

Biographische Ursachen

  • Ein Teil der Fälle (ca. 10 %) ist unregelmäßig erblich (familiäre ALS; FALS), meist autosomal-dominant, aber auch rezessiv. 90 % der ALS-Fälle sind sporadisch (SALS).
    FALS: am häufigsten betroffenen Gene sind C9ORF72, SOD1, TDP-43, FUS und TBK1 [2]; KIF5A (bei sechs Prozent der ALS-Patienten fand sich der Single-Nukleotid-Polymorphismus rs113247976) [6]
    Folgende Genmutationen sind bekannt:
    • Mutationen des Superoxid-Dismutase 1 (SOD1) Gens [12] (15-20 % der FALS-Fälle)
    • Mutationen in den DNA-/RNA-Bindungsproteinen TDP-43 (TAR DNA-binding protein 43) und FUS/TLS (fused in sarcoma/translated in liposarcoma) [14] (jeweils ca. 5 %  der familiären ALS-Fälle)
    • GGGGCC-Hexanukleotid-Expansionen im Chromosome-9-open-reading-frame-72(C9ORF72)-Gen (bis zu 50 % der FALS- und  bis zu 20 % der SALS-Fälle nachweisen)
  • Berufe
    • Profifußballspieler: wg. Kopftraumata [4]
    • Berufe mit schwerer körperlicher Arbeit/"schweißtreibende Aktivitäten" (z. B. Steinmetze, Holzfäller oder Spitzensportler) [9]

Umweltbelastungen – Intoxikationen (Vergiftungen)

  • Dieselabgase (enthalten sind Hexan (den Alkanen zugehörige chemische Verbindung) und Formaldehyd): 13 % erhöhtes Risiko bei Männern [8]
  • Extrem niederfrequente elektromagnetische Felder (Männer) (Beobachtungsstudie) [5]
  • Pestizide: Pentachlorbenzol (OR 2,21; 1,06-4,60) und cis-Chlordan (OR 5,74; 1,80-18,20) [3]
  • Polybromierte Diphenylether 47 (OR 2,69; 1,49-4,85) [3]
  • Polychlorierte Biphenyle (PCB): PCB 175 (OR 1,81; 1,20-2,72) und PCB 202 (OR 2,11; 1,36-3,27) [3]
    Hinweis: Polychlorierte Biphenyle gehören zu den endokrinen Disruptoren (Synonym: Xenohormone), die bereits in geringsten Mengen durch Veränderung des Hormonsystems die Gesundheit schädigen können.

Literatur

  1. Li W et al.: Human endogenous retrovirus-K contributes to motor neuron disease Science. Science Translational Medicine 30 Sep 2015: Vol. 7, Issue 307, pp. 307ra153 DOI: 10.1126/scitranslmed.aac8201
  2. Freischmidt A et al.: Haploinsufficiency of TBK1 causes familial ALS and fronto-temporal dementia. Nat Neurosci 2015 18:631-636
  3. Su FC et al.: Association of Environmental Toxins With Amyotrophic Lateral Sclerosis. JAMA Neurol. Published online May 09, 2016. doi:10.1001/jamaneurol.2016.0594
  4. Chio A et al.: Severely increased risk of amyotrophic lateral sclerosis among Italian professional foot-ball players. Brain 2005 Mar;128(Pt 3):472-6
  5. Koeman T et al.: Occupational exposure and amyotrophic lateral sclerosis in a prospective cohort. Occup Environ Med Published Online First: 29 March 2017. doi: 10.1136/oemed-2016-103780
  6. Brenner D et al.: Hot-spot KIF5A mutations cause familial ALS. Brain Published: 12 January 2018, awx370, https://doi.org/10.1093/brain/awx370
  7. Leibiger C  et al.: TDP-43 controls lysosomal pathways thereby determining its own clearance and cytotoxicity, Human Molecular Genetics 2018 Feb 20. doi: 10.1093/hmg/ddy066
  8. Dickerson AS et al.: Amyotrophic Lateral Sclerosis and Exposure to Diesel Exhaust in a Danish Cohort. Am J Epidemiol 2018; 187: 1613-1622 https://doi.org/10.1093/aje/kwy069
  9. Rosenbohm A et al. The ALS Registry Swabia Study Group. Life Course of Physical Activity and Risk and Prognosis of Amyotrophic Lateral Sclerosis in a German ALS Registry. Neurology Oct 2021, 10.1212/WNL.0000000000012829; doi: 10.1212/WNL.0000000000012829