Pathogenese (Krankheitsentstehung)
Die Ursache des Autismus bleibt häufig unklar. Untersuchungen fokussieren sich derzeit auf das Oxytocin Rezeptor Gen (OXTR) als ein Risikofaktor.
In einer Studie wird eine Dysbalance zwischen den Aminosäuren (AS) insgesamt und den verzweigtkettigen Aminosäuren (abgekürzt BCAA für engl. Branched-Chain Amino Acids) im Besonderen diskutiert: Bei Patienten mit Autismus-Spektrum-Störung (engl. Autism Spectrum Disorder (ASD) wurden 31 Amine untersucht (darunter auch die 20 zur Synthese von Proteinen verwendeten Aminosäuren). Dabei ließen sich drei Konstellationen der Amine, die (fast) nur bei ASD-Patienten auftraten, nachweisen, Die Autoren bezeichneten diese als "ASD-assoziierte Aminosäure-Dysregulations-Metabotypen" (AADM) [22].
Dies passt zur Hypothese, dass die ASD mit Störungen im Enzyms BCKDK (branched chain ketoacid dehydrogenase kinase) in Verbindung sieht. Darüber hinaus wurden auch niedrige BCAA-Konzentrationen als Ursache für komorbide geistige Behinderung und Autismus beschrieben [21].
Möglicherweise ist hohes pränatales ("vor der Geburt") Östrogen ein Trigger für Autismus: Fruchtwasserproben aus der dänischen Biobank, von denen die Höhe der pränatalen Östrogenspiegel bestimmt wurde, zeigten, dass die Östrogen-Spiegel im Durchschnitt bei den 98 Feten, die später Autismus entwickelten, signifikant höher waren als bei den 177 Feten, die keinen Autismus entwickelten [26].
Von der Wirkung pränataler Östrogene weiß man bislang nur, dass sie das Gehirnwachstum beeinflussen und das Gehirn„maskulinisieren".
Ätiologie (Ursachen)
Biographische Ursachen
- Genetische Belastung durch Eltern, Großeltern (52,4 %) [3]
- Bei Eltern, die bereits ein Kind mit einer Autismus-Spektrum-Störung (ASD) haben, liegt das Risiko für den Nachwuchs ebenfalls eine ASD zu entwickeln [18]
- für weiblichen Nachwuchs bei
- 4,2 %, wenn es sich um einen älteren Bruder mit ASD handelt
- 12,9 %, wenn es sich um eine ältere Schwester mit ASD handelt
- für männlichen Nachwuchs bei
- 12,9 %, wenn es sich um einen älteren Bruder mit ASD handelt
- 16,7 %, wenn es sich um eine ältere Schwester mit ASD handelt
- für weiblichen Nachwuchs bei
- Kreuzaggretation: Jüngere Geschwister von ADHS-Kindern hatten auch ein erhöhtes Risiko, an einer ASD zu erkranken (Odds Ratio 6,99; 3,42-14,27); jüngere Geschwister von ASD-Kindern erkrankten fast 4-fach häufiger an ADHS (OR 3,70; 1,67-8,21) [23]
- Genetisches Risiko abhängig von Genpolymorphismen:
- Gene/SNPs (Einzelnukleotid-Polymorphismus; engl.: single nucleotide polymorphism):
- Gene: SLC25A12
- SNP: rs4307059 in einer intergenischen Region [Autismus-Spektrum-Störungen (ASS)]
- Allel-Konstellation: CT (1,19-fach)
- Allel-Konstellation: TT (1,42-fach)
- SNP: rs2056202 im Gen SLC25A12 [Autismus-Spektrum-Störungen (ASS)]
- Allel-Konstellation: CT (0,8-fach)
- Allel-Konstellation: TT (0,64-fach)
- SNP: rs2292813 im Gen SLC25A12 [Autismus-Spektrum-Störungen (ASS)]
- Allel-Konstellation: CT (0,75-fach)
- Allel-Konstellation: TT (0,56-fach)
- SNP: rs10513025 in einer intergenischen Region [Autismus-Spektrum-Störungen (ASS)]
- Allel-Konstellation: CT (0,55-fach)
- Allel-Konstellation: CC (> 0,55-fach)
- Gene/SNPs (Einzelnukleotid-Polymorphismus; engl.: single nucleotide polymorphism):
- Genetische Erkrankungen
- Kanner-Syndrom ‒ Chromosom 7, 15 (unklarer Erbgang)
- Asperger-Syndrom ‒ Chromosom 1, 3, 13 (unklarer Erbgang)
- Bei Eltern, die bereits ein Kind mit einer Autismus-Spektrum-Störung (ASD) haben, liegt das Risiko für den Nachwuchs ebenfalls eine ASD zu entwickeln [18]
- Cannabis-Konsum der Mutter (adjustierte Hazard Ratio von 1,51, die mit einem 95-%-Konfidenzintervall von 1,17 bis 1,96) [28]
- Rauchende Großmutter mütterlicherseits [16] – Risikoerhöhung von
- 67 %, dass Enkelinnen typisch autistische Merkmale (eingeschränkte soziale Kommunikation oder repetitive Verhaltensweisen) entwickeln
- > 50 %, dass Enkelinnen ein Asperger-Syndrom (Autismus-Spektrum-Störung, ASD) entwickeln
- Infektionen der Mutter während der Schwangerschaft – Erreger des TORCH-Komplexes (Toxoplasma, „Other“, Röteln-Virus, Cytomegalie-Virus und Herpes simplex-Virus) (Risiko des Kindes auf einen Autismus um 79 % erhöht) [24]
- Lebensalter
- Alter der Mutter zum Zeitpunkt der Zeugung – zunehmendes Alter der Mutter von 30 bis 34 Jahren bis zum höchsten Risiko bei Müttern mit einem Alter von über 40 Jahren [8, 9]
- Alter des Vaters zum Zeitpunkt der Zeugung > 40 Jahre (5- bis 6-fach höheres Risiko für autistische Wesenszüge als Kinder von Vätern, die jünger als 30 Jahre waren [4, 5]
- Migrationsstatus der Eltern (konsensbasierte Aussage) [10]
Krankheitsbedingte Ursachen
Endokrine, Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten (E00-E90)
- Diabetes mellitus Typ 1 [19]
- Diabetes mellitus Typ 2 (vor der Schwangerschaft) und Gestationsdiabetes mellitus (GDM), diagnostiziert in der 26. Schwangerschaftswoche [17]
Psyche – Nervensystem (F00-F99; G00-G99)
- Alkoholabusus der Mutter während der Schwangerschaft (ausgeschlossener Risikofaktor: dieser ist mit deutlichen kognitiven Einschränkungen, zahlreichen organischen Fehlbildungen und anderen Verhaltensauffälligkeiten beim Kind assoziiert; jedoch nicht mit Autismus-Spektrum-Störungen) [11]
- Frühkindlicher Hirnschaden
- Kleinhirnhypoplasie ‒ Unterentwicklung des Kleinhirns
Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett (O00-O99)
- Infektionen der Mutter während der Schwangerschaft – Erreger des TORCH-Komplexes (Toxoplasma, „Other“, Röteln-Virus, Cytomegalie-Virus und
Herpes simplex-Virus) (Risiko des Kindes auf einen Autismus um 79 % erhöht) [24]
Labordiagnosen – Laborparameter, die als unabhängige Risikofaktoren gelten
- Eisenmangelanämie (Blutarmut durch Eisenmangel) vor der 31. Schwangerschaftswoche: 4,9 % der anämischen Mütter versus 3,5 % der gesunden Mütter (Odds Ratio 1,44; 1,13-1,84) [27]
Medikamente, die die Mutter während der Schwangerschaft eingenommen hat:
- Antidepressiva?
- Einnahme im zweiten und/oder dritten Trimenon (Schwangerschaftsdrittel); Zunahme um 87 % gegenüber Kindern ohne Exposition [7]
- Eine Metaanalyse sowie zwei Registerstudien finden nach Einnahme von SSRI von Schwangeren keine Unterschiede für Autismus bei exponierten und nicht exponierten Geschwistern [13-15].
- Misoprostol ‒ Wirkstoff, der bei Magengeschwüren eingesetzt wird
- Thalidomid ‒ Beruhigungs-/Schlafmittel, welches durch den sog. Contergan-Skandal bekannt wurde
- Valproinsäure/Valproat (Wirkstoff, der bei Epilepsie eingesetzt wird) [6, 29]
Umweltbelastung – Intoxikationen (Vergiftungen)
- Dichlordiphenyltrichlorethan (DDT) – Schwangere hatten deutlich höhere Konzentrationen von DDT und dessen wichtigsten Metaboliten Dichlorodiphenyltrichloroethan p,p′-Dichlorodiphenyl-Ddichloroethylene (p,p′-DDE) im Blut [20]
- Feinstaub- und Stickstoffdioxidbelastung während der Schwangerschaft und im ersten Lebensjahr [2]
- Luftverschmutzung (Dieselpartikeln, Quecksilber sowie Blei, Nickel, Mangan und Methylenchloriden) [1]
- Pränatale (vogeburtliche) Belastung mit Pestiziden
- polychlorierten Biphenyle (PCB) und Organochlorpestizide (OCP) [12]
Hinweis: Polychlorierte Biphenyle gehören zu den endokrinen Disruptoren (Synonym: Xenohormone), die bereits in geringsten Mengen durch Veränderung des Hormonsystems die Gesundheit schädigen können. - Glyphosat (Odds Ratio 1,16; 95-%-Konfidenzintervall 1,06 bis 1,27), Chlorpyrifos (Odds Ratio 1,13; 1,05-1,23), Diazinon (Odds Ratio 1,11; 1,01-1,21), Malathion (Odds Ratio 1,11; 1,01-1,22), Avermectin (Odds Ratio 1,12; 1,04-1,22) und Permethrin (Odds Ratio 1,10; 1,01-1,20) [25]
- polychlorierten Biphenyle (PCB) und Organochlorpestizide (OCP) [12]
Weiteres
- Rötel-Impfung in der Schwangerschaft (konsensbasierte Aussage) [10]
Literatur
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