Sehnervvorsorge: Diagnostik und Prävention sehnervbezogener Erkrankungen

Der Nervus opticus (Sehnerv) ist essenzieller Bestandteil der afferenten Sehbahn und verantwortlich für die Weiterleitung visueller Reize vom Bulbus oculi (Augapfel) zum Cortex occipitalis (Sehrinde des Gehirns). Erkrankungen des Sehnervs können zu irreversiblen funktionellen Einbußen bis hin zur Amaurose (Erblindung) führen. Die frühzeitige Erkennung sehnervbezogener Erkrankungen ist daher ein zentrales Anliegen der ophthalmologischen und neuroophthalmologischen (nervenbezogenen augenheilkundlichen) Vorsorgemedizin.

Risikofaktoren für Sehnervschädigungen

  • Erhöhter intraokularer Druck (Augeninnendruck) – primärer Risikofaktor für das primäre Offenwinkelglaukom.
  • Positive Familienanamnese (familiäre Vorbelastung) – insbesondere bei Glaukom, Multipler Sklerose (MS), hereditären Optikusatrophien (erblichen Sehnervenschwächen).
  • Vaskuläre Komorbiditäten (Begleiterkrankungen des Gefäßsystems) – arterielle Hypertonie (Bluthochdruck), Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit), Hyperlipidämie (erhöhte Blutfette), arterielle Verschlusskrankheit.
  • Autoimmunerkrankungen – Riesenzellarteriitis (Gefäßentzündung), systemischer Lupus erythematodes (Autoimmunerkrankung), Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankung.
  • Infektiöse Ursachen – Borreliose, Syphilis, Tuberkulose, virale Retinitis (Netzhautentzündung durch Viren).
  • Toxische Substanzen und Medikamente – Methanol (Alkoholersatzstoff), Ethambutol, Linezolid, Amiodaron.
  • Mangelernährung – insbesondere Vitamin-B12-Mangel, Kupfermangel.

Leitsymptome und Warnzeichen

  • Visusminderung (Sehschärfereduktion), monokular (einseitig) oder binokular (beidseitig), schleichend oder akut.
  • Skotome (Gesichtsfeldausfälle) und Gesichtsfelddefekte (z. B. zentrales Skotom, arcuäre Defekte).
  • Okuläre Schmerzen (Augenschmerzen), insbesondere bei Bulbusbewegung (Bewegung des Augapfels) – Hinweis auf retrobulbäre Neuritis (hinter dem Augapfel gelegene Sehnerventzündung).
  • Dyschromatopsie (Farbsehstörung), zumeist Blau-Gelb- oder Rot-Grün-Störung.
  • Relative afferente Pupillenstörung (RAPD; Marcus-Gunn-Phänomen) – asymmetrische Lichtreaktion der Pupillen.

Diagnostische Verfahren zur Sehnervbeurteilung

  • Anamnese und klinische Untersuchung
    • Einschätzung der Sehfunktion, Pupillenreaktion, Augenmotilität (Augenbeweglichkeit) und sensibler Anamnesekriterien.
  • Ophthalmoskopie (Augenspiegelung)
    • Direkte oder indirekte Fundusuntersuchung (Untersuchung des Augenhintergrunds) mit Beurteilung der Papillenexkavation (Aushöhlung des Sehnervenkopfes), Randschärfe, Atrophiezeichen oder Papillenödem (Schwellung).
  • Perimetrie (Gesichtsfelduntersuchung)
    • Standardautomatisierte statische Gesichtsfeldanalyse (z. B. Humphrey 24-2, 30-2) zur Detektion typischer Gesichtsfeldausfälle.
  • Optische Kohärenztomographie (OCT)
    • Hochauflösende Querschnittsbildgebung der retinalen Nervenfaserschicht, Ganglienzell-Inner-Plexiform-Schicht und Papillenmorphologie.
  • Tonometrie
    • Applanationstonometrie (Messung des Augeninnendrucks mittels Aufdruck) zur Druckbestimmung.
  • Pachymetrie
    • Messung der zentralen Hornhautdicke zur Beurteilung des Augeninnendrucks im Zusammenhang.
  • Farbsinnprüfung
    • Durchführung mittels Ishihara- oder Panel-D15-Test zur Feststellung erworbener Farbsehstörungen.
  • Magnetresonanztomographie (MRT)
    • Bildgebung der Orbitae (Augenhöhlen), des Sehnervs und des Chiasmas (Sehnervenkreuzung) bei Verdacht auf Raumforderungen, Entzündungen oder Demyelinisation (Schädigung der Nervenhülle).
  • Laboruntersuchungen
    • Entzündungsmarker: C-reaktives Protein, Blutsenkungsgeschwindigkeit.
    • Immunserologie: Antinukleäre Antikörper (ANA), Anti-Neutrophile zytoplasmatische Antikörper (ANCA), Aquaporin-4-Antikörper, Myelin-Oligodendrozyten-Glykoprotein-Antikörper (MOG-AK).
    • Infektionsserologie: Treponema-pallidum-Serologie, Borrelienantikörper (IgM/IgG), Quantiferon-Test.
    • Vitaminstatus: Vitamin B12, Kupfer.

Differentialdiagnostik sehnervbezogener Erkrankungen

  • Glaukomatöse Optikusneuropathie (durch grünen Star bedingte Sehnervschädigung)
    • Progressiver Verlust retinaler Ganglienzellen und charakteristische Exkavation des Sehnervenkopfes bei erhöhtem oder normalem Augeninnendruck.
  • Neuritis nervi optici (Sehnerventzündung)
    • Akute entzündliche Demyelinisierung (Schädigung der Nervenhülle) mit Visusminderung, typischerweise bei Multipler Sklerose oder Neuromyelitis-optica.
  • Nicht-arteriitische anteriore ischämische Optikusneuropathie (NAION)
    • Durchblutungsstörung der vorderen Sehnervensegmente mit plötzlicher einseitiger Visusminderung.
  • Arteriitische anteriore ischämische Optikusneuropathie (AAION)
    • Bei Riesenzellarteriitis, mit Gefahr bilateraler Erblindung – Notfallindikation zur hochdosierten Steroidtherapie.
  • Kompressive Optikusneuropathie
    • Raumforderungen (z. B. Meningeome, Hypophysenadenome), Aneurysmen oder erhöhter Orbitadruck.
  • Toxisch-nutritive Optikusneuropathie
    • Nervenschädigung durch toxische Einwirkungen oder Mangelernährung.
  • Hereditäre Optikusatrophien
    • Genetisch bedingte Sehnervendegeneration, z. B. Lebersche hereditäre Optikusneuropathie.

Präventions- und Verlaufsstrategien

  • Früherkennung bei Risikopersonen
    • Regelmäßige augenärztliche Kontrolluntersuchungen ab dem 40. Lebensjahr bei familiärer Belastung oder bekannten Risikofaktoren.
  • Druckregulation
    • Medikamentöse oder chirurgische Senkung des Augeninnendrucks zur Glaukomprophylaxe.
  • Systemtherapie bei Autoimmunpathologien
    • Immunmodulatorische Therapie bei Multipler Sklerose, Riesenzellarteriitis oder Lupus erythematodes.
  • Optimierung vaskulärer Risikofaktoren
    • Kontrolle von Blutdruck, Blutzucker, Blutfetten und antithrombotische Therapie.
  • Vermeidung neurotoxischer Substanzen
    • Medikamentenüberprüfung und Vermeidung potenziell nervenschädigender Substanzen.
  • Ernährungssicherung
    • Sicherstellung einer ausreichenden Versorgung mit Vitamin B12 und Spurenelementen wie Kupfer.

Fazit

Sehnervbezogene Erkrankungen stellen eine interdisziplinäre Herausforderung dar, deren frühzeitige Detektion durch ophthalmologische und neurologische Expertise wesentlich zur Prognoseverbesserung beiträgt. Ein standardisiertes diagnostisches Vorgehen sowie individualisierte Risikobewertung sind zentraler Bestandteil einer effektiven Sehnervvorsorge.