Tourette-Syndrom – Medikamentöse Therapie
Eine kausale Therapie (ursächliche Behandlung) ist nicht möglich.
Therapieziele
- Symptomatische Therapie (Behandlung der Symptome): Tic-Reduktion (Verminderung der Tics)
- Therapie von Komorbiditäten (Begleiterkrankungen): siehe jeweilige Krankheit
Therapieempfehlungen
- Bislang liegen nur wenige kontrollierte Studien zur medikamentösen Behandlung von Tics (unkontrollierte Muskelzuckungen) vor.
- Folgende Neuroleptika (Mittel zur Dämpfung der Nervenaktivität, die auf Dopaminrezeptoren wirken) werden eingesetzt:
Klassische Antipsychotika (KAP)
- Haloperidol, Pimozid
- Beide sind nebenwirkungsreicher als neuere atypische Antipsychotika (AAP) und gelten daher als Reservewirkstoffe bei starken Tics.
- Cave: Haloperidol ist der einzige zugelassene Wirkstoff zur Tic-Therapie; alle anderen im Folgenden sind Off-Label-Use (außerhalb der Zulassung).
Atypische Antipsychotika (AAP)
- Risperidon: Mittel der ersten Wahl bei Kindern und Erwachsenen (Europa).
- Wegen Müdigkeit und Gewichtszunahme werden in Deutschland alternativ Benzamide (Arzneistoffe gegen psychische Erkrankungen) eingesetzt: Tiaprid (besonders bei Kindern), Sulpirid (Kinder und Erwachsene).
- Bei unzureichender Wirksamkeit oder zu starken Nebenwirkungen von Risperidon, Sulpirid oder Tiaprid: Aripiprazol (Kinder und Erwachsene).
- Andere AAP (Amisulprid, Olanzapin, Quetiapin, Ziprasidon) spielen eine untergeordnete Rolle.
Weitere Reservewirkstoffe
- Tetrabenazin – Dopaminspeicherentleerer (hemmt die Ausschüttung von Dopamin)
- Topiramat – Antiepileptikum (Mittel gegen Krampfanfälle)
- Pergolid – Dopaminrezeptor-Agonist (Wirkstoff, der Dopaminrezeptoren stimuliert)
Dosierungsprinzip
- Dopaminrezeptor-Antagonisten (Wirkstoffe, die Dopaminrezeptoren blockieren) einschleichend beginnen und langsam bis zur gewünschten Wirkung steigern; Tic-Fluktuationen erfordern im Verlauf Dosisanpassungen.
Fokaltherapien/sonstige Optionen
- In Einzelfällen Botulinum-Toxin (Nervengift zur Muskelentspannung, lokal injiziert) oder Cannabismedikamente wie Tetrahydrocannabinol (THC, Dronabinol) einsetzen.
Bei Komorbidität ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung):
- Adrenoagonisten (Sympathikus-dämpfende Substanzen) wie Clonidin und Guanfacin sind möglich, da sie zusätzlich eine schwach Tic-reduzierende Wirkung besitzen.
Weitere Hinweise
- Eine vollständige Symptomfreiheit ist in der Regel nicht erreichbar, realistisch ist eine Tic-Reduktion (bis zu 50 %).
Klassische Antipsychotika (KAP)
| Wirkstoffe | Empfohlene Tages-Höchstdosis | Besonderheiten |
|---|---|---|
| Haloperidol | 10-15 (-20) mg | starke Nebenwirkungen |
| Pimozid | 8 (-12) mg |
- Wirkweise Haloperidol: antidopaminerg (hemmt Dopaminwirkung), antipsychotisch (wirkt gegen Wahnvorstellungen und Halluzinationen)
- Wirkspektrum: Bewegungsstörungen, psychotische Erkrankungen (Geisteskrankheiten), chronischer Schmerz
- Nebenwirkungen: Bewegungsstörungen, malignes neuroleptisches Syndrom (lebensbedrohliche Reaktion mit Muskelsteife und Fieber), erhöhter Prolaktinspiegel (Hormon), Blutdruckabfall, Herzrhythmusstörungen, verminderte Krampfschwelle
- Wirkweise Pimozid: dopaminantagonistisch (blockiert Dopaminrezeptoren), antipsychotisc
- Nebenwirkungen: Gewichtszunahme, Müdigkeit, Parkinsonismus (Bewegungsstörung), QTc-Verlängerung (Störung der Herzleitung) bei Kombination mit Makroliden oder Sertralin, sexuelle Funktionsstörungen
Atypische Antipsychotika (AAP)
| Wirkstoffe | Empfohlene Tages-Höchstdosis | Besonderheiten |
|---|---|---|
| Risperidon | 4-8 mg | auch wirksam gegen Aggression |
| Tiaprid | 600-800 mg | |
| Sulpirid | 800-1.200 mg | |
| Aripiprazol | 10-30 (-45) mg |
- Wirkweise Risperidon: dopaminantagonistisch (blockiert Dopaminrezeptoren)
- Nebenwirkungen: erhöhter Blutzucker und Blutfette, Bewegungsstörungen, Gewichtszunahme, Blutdruckabfall, erhöhter Prolaktinspiegel, verlängerte QT-Zeit, Sedierung (Beruhigung)
- Wirkweise Tiaprid: antidopaminerg (hemmt Dopaminwirkung)
- Wirkspektrum: Tics und Bewegungsstörungen
- Nebenwirkungen: Appetit- und Gewichtszunahme, orthostatische Beschwerden (Blutdruckabfall beim Aufstehen), Kopfschmerzen, Müdigkeit, erhöhte Prolaktinwerte, Schlafstörungen, Schwindel
- Wirkweise Sulpirid: antipsychotisch, antidepressiv
- Wirkspektrum: Schizophrenie, Verhaltensabnormitäten, Neurosen (seelische Störungen)
- Nebenwirkungen: Appetit- und Gewichtszunahme, orthostatische Beschwerden, erhöhte Prolaktinwerte (besonders bei Frauen), Kopfschmerzen, Müdigkeit, Schlafstörungen, Schwindel, Bewegungsstörungen
- Wirkweise Aripiprazol: antipsychotisch
- Wirkspektrum: bipolare Störung (manisch-depressive Erkrankung), Schizophrenie
- Kontraindikation: Psychose (psychische Erkrankung mit Realitätsverlust)
- Nebenwirkungen: Unruhe, Gewichtszunahme, Blutdruckabfall beim Aufstehen, Schlafstörungen, Sedierung, Nervosität
Weitere Wirkstoffe
| Wirkstoffgruppe | Wirkstoffe | Empfohlene Tages-Höchstdosis | Besonderheiten |
|---|---|---|---|
| Dopaminspeicherentleerer | Tetrabenazin | 75 mg | keine Kombination mit MAO-Hemmern |
| Antiepileptikum | Topiramat | ||
| Dopaminrezeptor-Agonist | Pergolid | ||
| Cannabismedikament | Tetrahydrocannabinol | 20 (-30) mg | nicht für Kinder geeignet |
| Adrenoagonist | Clonidin | 0,003-0,006 mg/kg | |
| Guanfacin |
- Wirkweise Tetrabenazin: antidopaminerg (hemmt Dopaminwirkung)
- Wirkspektrum: Bewegungsstörungen
- Nebenwirkungen: Angst, Depression, Müdigkeit, Schläfrigkeit, selten malignes neuroleptisches Syndrom
- Wirkweise Topiramat: Hemmung von Natriumkanälen und Glutamatrezeptoren
- Nebenwirkungen: Appetitlosigkeit, Depressionen, kognitive und psychische Störungen
- Wirkweise Pergolid: Stimulation dopaminerger Neurone (Nervenzellen)
- Indikation: bevorzugt bei tagsüber dominanten Symptomen
- Nebenwirkungen: Bewegungsstörungen, Übelkeit, Halluzinationen, Blutdruckabfall, fibrotische Veränderungen im Brust- und Bauchraum, Müdigkeit, Unruhe
- Wirkweise Tetrahydrocannabinol: Hemmung von Natriumkanälen und Glutamatrezeptoren
- Indikationen: Appetitlosigkeit, Schmerzen, Spastik, Übelkeit
- Nebenwirkungen: Depressionen, kognitive Störungen, Herzklopfen, Müdigkeit, Schwäche, Magen-Darm-Beschwerden
- Wirkweise Clonidin: Stimulation zentraler Alpha-2-Rezeptoren, Senkung des Sympathikotonus (Nervenaktivität des vegetativen Nervensystems)
- Indikationen: Unruhe, vegetative Symptome (z. B. Schwitzen, Herzrasen)
- Nebenwirkungen: Bluthochdruck nach abruptem Absetzen, Mundtrockenheit, Verstopfung, Müdigkeit, Sedierung
- Wirkweise Guanfacin: zentral wirkender Alpha-2A-Agonist (im präfrontalen Cortex)
- Wirkungseintritt: volle Wirkung nach 1–3 Wochen
- Indikation: ADHS – Einsatz bei Kindern und Jugendlichen von 6–17 Jahren, wenn Stimulanzien nicht möglich, unverträglich oder unwirksam sind; nicht für Erwachsene zugelassen
- Kontraindikationen: Herzrhythmusstörungen, schwere Depression, Nierenfunktionsstörungen
- Nebenwirkungen: Bauchschmerzen, Müdigkeit, Mundtrockenheit, Schläfrigkeit, Schlaflosigkeit, Schwindel
Neues/Update – Ecopipam (D1-Rezeptor-Antagonist)
- Wirkprinzip: selektiver Dopamin-D1-Antagonist (blockiert gezielt D1-Rezeptoren des Dopaminsystems) [10].
- Evidenz: In einer klinischen Studie bei Kindern und Jugendlichen reduzierte Ecopipam die Tic-Schwere (YGTSS-TTS) signifikant gegenüber Placebo; kein typisches Nebenwirkungsprofil wie bei D2-Blockern (kein signifikanter Anstieg von Gewicht, BMI, Stoffwechselparametern oder Prolaktin; extrapyramidale Symptome selten und mild) [11].
- Phase-III-Studie: Nach einer 12-wöchigen offenen Behandlungsphase wurden Responder (Patienten mit Ansprechen) doppelblind entweder auf Ecopipam fortgeführt oder auf Placebo umgestellt. Rückfallrate 41,9 % unter Ecopipam gegenüber 68,1 % unter Placebo (p = 0,0084). Häufigste Nebenwirkungen: Schläfrigkeit, Schlaflosigkeit, Angst, Müdigkeit, Kopfschmerzen. Insgesamt gute Verträglichkeit [12, 13].
- Einordnung: vielversprechende neue Therapieoption, Leitlinien-Update abwarten [10].
Leitlinien-Kontext:
-
Nach den europäischen Leitlinien (ESSTS) gelten Risperidon und andere atypische Antipsychotika als Mittel der ersten Wahl. Verhaltenstherapie bleibt essenzieller Bestandteil der Behandlung.
Legende der Abkürzungen
- AAP (Atypische Antipsychotika) – neuere Medikamente gegen Tic-Störungen und psychische Erkrankungen
- ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) – Aufmerksamkeitsstörung mit motorischer Unruhe
- BMI (Body-Mass-Index) – Körpermassenindex zur Bewertung des Körpergewichts
- cMRT (Craniale Magnetresonanztomographie) – Magnetresonanztomographie (Kernspinuntersuchung des Schädels)
- CT (Computertomographie) – Röntgenschichtaufnahme zur Darstellung innerer Organe und Strukturen
- EPS (Extrapyramidal-motorische Störungen) – Bewegungsstörungen durch Medikamente oder Nervenschäden
- ESSTS (European Society for the Study of Tourette Syndrome) – Europäische Fachgesellschaft für Tourette-Syndrom
- HR (Hazard Ratio) – relatives Risiko im Verlauf einer klinischen Studie
- KAP (Klassische Antipsychotika) – ältere Medikamente zur Behandlung von Tic-Störungen und Psychosen
- MAO-Hemmer (Monoaminoxidase-Hemmer) – Wirkstoffe, die den Abbau von Botenstoffen im Gehirn hemmen
- QTc (Korrigiertes QT-Intervall) – Zeitmaß für die elektrische Reizleitung des Herzens im EKG
- THC (Tetrahydrocannabinol) – psychoaktiver Wirkstoff aus der Cannabispflanze
- YGTSS-TTS (Yale Global Tic Severity Scale – Total Tic Score) – Bewertungsskala zur Beurteilung der Tic-Schwere
Literatur
- Pringsheim T, Marras C.: Pimozide for tics in Tourette's syndrome. Cochrane Database Syst Rev 2009; 2: CD006996
- Roessner V, Plessen KJ, Rothenberger A et al.: European clinical guidelines for Tourette syndrome and other tic disorders. Part II: pharmacological treatment. Eur Child Adolesc Psychiatry 2011; 20: 173-196
- Kawohl W, Schneider F, Vernaleken I et al.: Aripiprazole in the pharmacotherapy of Gilles de la Tourette syndrome in adult patients. World J Biol Psychiatry 2009; 10: 827-831
- Yoo HK, Lee JS, Paik KW et al.: Open-label study comparing the efficacy and tolerability of aripiprazole and haloperidol in the treatment of pediatric tic disorders. Eur Child Adolesc Psychiatry 2011; 20: 127-135
- Wenzel C, Kleinmann A, Bokemeyer S et al.: Aripiprazole for the treatment of tourette syndrome: a case series of 100 patients. J Clin Psychopharmacol 2012; 32: 548-550
- Porta M, Sassi M, Cavallazzi M et al.: Tourette's syndrome and role of tetrabenazine: review and personal experience. Clin Drug Investig 2008; 28: 443-459
- Jankovic J, Jimenez-Shahed J, Brown LW.: A randomised, double-blind, placebo-controlled study of topiramate in the treatment of Tourette syndrome. J Neurol Neurosurg Psychiatry 2010; 81: 70-73
- Müller-Vahl KR, Schneider U, Prevedel H et al.: Delta 9-tetrahydrocannabinol (THC) is effective in the treatment of tics in Tourette syndrome: a 6-week randomized trial. J Clin Psychiatry 2003; 64: 459-465
- Gilbert DL, Sethuraman G, Sine L et al.: Tourette's syndrome improvement with pergolide in a randomized, double-blind, crossover trial. Neurology 2000; 54: 1310-1315
- Roessner V, Eichele H, Stern JS et al.: European clinical guidelines for Tourette syndrome and other tic disorders—version 2.0. Part III: pharmacological treatment. Eur Child Adolesc Psychiatry. 2021;31:425-441. https://doi.org/10.1007/s00787-021-01899-z
- Gilbert DL, Dubow JS, Cunniff TM et al.: Ecopipam for Tourette syndrome: a randomized trial (Phase IIb, pediatric). Pediatrics. 2023;151(2):e2022059574. https://doi.org/10.1542/peds.2022-059574
- Emalex Biosciences. Emalex Biosciences’ lead candidate meets primary and secondary endpoints in Phase 3 Tourette syndrome study. Press release, 25 Feb 2025. https://emalexbiosciences.com/news/emalex-biosciences-lead-candidate-meets-primary-and-secondary-endpoints-in-phase-3-tourette-syndrome-study/
- ClinicalTrials.gov. D1AMOND: Ecopipam tablets in Tourette’s disorder (NCT05615220). https://clinicaltrials.gov/study/NCT05615220
Leitlinien
- Roessner V, Eichele H, Stern JS et al.: European clinical guidelines for Tourette syndrome and other tic disorders—version 2.0. Part III: pharmacological treatment. Eur Child Adolesc Psychiatry 2021. https://doi.org/10.1007/s00787-021-01899-z
- Szejko N, et al. European clinical guidelines for Tourette syndrome—version 2.0. Part I: assessment. Eur Child Adolesc Psychiatry 2022; 31: 383-402. doi: 10.1007/s00787-021-01842-2
- Müller-Vahl KR et al.: European clinical guidelines for Tourette syndrome—version 2.0. Part II: therapy. Eur Child Adolesc Psychiatry 2022; 31: 445-448. doi: 10.1007/s00787-021-01832-4