Magersucht (Anorexia nervosa) – Ursachen

Pathogenese (Krankheitsentstehung)

Die Pathogenese der Anorexia nervosa ist komplex und noch nicht vollständig geklärt. Es wird angenommen, dass eine Kombination aus genetischen, neurochemischen, hormonellen, psychosozialen und soziokulturellen Faktoren zur Entwicklung der Erkrankung beiträgt. Die Störung betrifft vor allem junge Frauen und ist durch extremes Hungern, eine verzerrte Körperwahrnehmung und ein starkes Verlangen nach Kontrolle des eigenen Körpers gekennzeichnet.

Genetische Faktoren

  • Es gibt Hinweise darauf, dass genetische Veranlagungen eine bedeutende Rolle bei der Entwicklung von Anorexia nervosa spielen. Studien zeigen, dass Menschen mit einer familiären Vorbelastung für Essstörungen oder psychische Erkrankungen ein erhöhtes Risiko haben, an Anorexie zu erkranken. Insbesondere Störungen im serotonergen System (das den Serotonin-Spiegel beeinflusst) scheinen genetisch bedingt zu sein. Serotonin, ein Neurotransmitter, spielt eine wichtige Rolle bei der Regulierung von Appetit, Stimmung und Impulskontrolle. Eine Dysregulation dieses Systems kann zu einem gestörten Essverhalten und einer übermäßigen Kontrolle des Nahrungsaufnahmeverhaltens führen.

Neurochemische und hormonelle Veränderungen

  • Serotonin-Dysregulation: Menschen mit Anorexia nervosa haben oft eine gestörte Serotoninproduktion und -regulation. Niedrige Serotoninspiegel sind mit einer verminderten Stimmung und einem Gefühl des Kontrollverlusts verbunden. Ironischerweise kann das Hungern den Serotoninspiegel weiter senken, was zu einer Art Zwang führt, den Essensverzicht fortzusetzen, da dies kurzfristig die emotionale Anspannung lindert. Die langfristigen Auswirkungen verstärken jedoch die Krankheitssymptome.
  • Leptin und Ghrelin: Leptin, ein Hormon, das den Sättigungszustand signalisiert, und Ghrelin, das den Hunger steuert, sind bei Anorexia nervosa ebenfalls dysreguliert. Menschen mit Anorexie haben häufig niedrigere Leptin- und erhöhte Ghrelinspiegel, was das normale Hunger- und Sättigungsempfinden stört.
  • Hypothalamische Dysfunktion: Störungen im Hypothalamus (Teil des Zwischenhirns), der das Essverhalten und den Energiehaushalt steuert, könnten ebenfalls zur Entstehung der Anorexia nervosa beitragen. Der Hypothalamus reguliert Hormone, die den Appetit und die Energieverwertung beeinflussen, und eine Fehlfunktion könnte dazu führen, dass das Hungergefühl unterdrückt wird.

Psychosoziale Faktoren

  • Ablehnung der weiblichen Rolle: Bei vielen Betroffenen spielt eine Ablehnung der weiblichen Geschlechterrolle eine zentrale Rolle. Jugendliche Frauen fühlen sich oft unwohl mit den körperlichen Veränderungen während der Pubertät und streben nach einem kindlichen oder androgynen Körperbild. Die Kontrolle über das Gewicht bietet eine Möglichkeit, diesen Wandel zu vermeiden.
  • Kontrollbedürfnis: Menschen mit Anorexia nervosa haben häufig ein starkes Bedürfnis nach Kontrolle, insbesondere in Bezug auf ihren Körper und ihr Essverhalten. Diese Kontrolle vermittelt ihnen ein Gefühl der Stärke und Selbstbestimmung, obwohl sie in anderen Lebensbereichen oft Gefühle von Ohnmacht oder Unsicherheit erleben. Das Hungern wird zum Mittel, um inneres Chaos zu regulieren und emotionale Belastungen zu kompensieren.
  • Gestörte familiäre Beziehungen: Psychodynamische Theorien zur Anorexia nervosa betonen häufig die Rolle gestörter Beziehungen zu den Eltern. Kinder, die in Familien aufwachsen, in denen familiäre Konflikte oder übermäßiger Druck herrschen, können die Essstörung als eine Form der Kontrolle über ihr eigenes Leben oder als Ausdruck eines unausgesprochenen Familienproblems entwickeln. Der Betroffene wird dabei oft zum Symptomträger familiärer Konflikte.

Soziokulturelle Faktoren

  • Schönheitsideale und Schlankheitskult: In westlichen Gesellschaften wird Schlankheit oft als Schönheitsideal propagiert, und der Erfolg wird häufig mit körperlicher Fitness und äußerer Attraktivität gleichgesetzt. Insbesondere in den Medien wird ein unrealistisches Körperbild vermittelt, das zu Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper und einer verzerrten Körperwahrnehmung führen kann. Diese soziokulturellen Einflüsse verstärken den Druck, einem Schlankheitsideal zu entsprechen.
  • Leistungsdruck: Neben dem Schönheitsideal spielen auch der Leistungsdruck und der Wunsch nach Perfektionismus eine zentrale Rolle. In Gesellschaften, in denen Leistung und Selbstdisziplin hoch geschätzt werden, kann das Gewicht und die Kontrolle über die Nahrungsaufnahme zu einem Symbol für Selbstbeherrschung und Erfolg werden. Menschen mit Anorexia nervosa zeigen häufig perfektionistische und zwanghafte Persönlichkeitszüge, was sie anfälliger für die Entwicklung der Störung macht.

Psychogene und emotionale Komponenten

  • Identitätsprobleme: Viele Betroffene haben Schwierigkeiten, eine stabile Identität und ein positives Selbstbild zu entwickeln. Anorexia nervosa wird häufig als ein Versuch interpretiert, eine Form von Identität oder Autonomie zu schaffen, insbesondere in der Pubertät, wenn der Körper im Zentrum der Selbstwahrnehmung steht.
  • Kindheitstraumata: Frühkindliche Traumata, einschließlich Missbrauch oder Vernachlässigung, können die emotionale Entwicklung und das Körperbild beeinflussen und die Wahrscheinlichkeit einer Essstörung erhöhen. Diese Traumata können zu tiefen Selbstwertproblemen führen, die die Entstehung und Aufrechterhaltung der Anorexie begünstigen.

Zusammenfassung

Die Pathogenese der Anorexia nervosa ist multifaktoriell und umfasst genetische, neurochemische, hormonelle, psychosoziale und soziokulturelle Einflüsse. Genetische Prädispositionen und Störungen im serotonergen System führen zu einer Dysregulation der Appetit- und Sättigungssteuerung. Gleichzeitig tragen psychologische Faktoren wie Perfektionismus, Kontrollbedürfnis und familiäre Konflikte zur Entstehung der Störung bei. Soziokulturelle Einflüsse, insbesondere das westliche Schönheitsideal und der Druck, schlank zu sein, verstärken die Anfälligkeit für Anorexie. Diese Faktoren wirken zusammen und beeinflussen die individuellen Verhaltensmuster und psychischen Konflikte der Betroffenen, was die Komplexität der Erkrankung unterstreicht.

Ätiologie (Ursachen)

Biographische Ursachen

  • Genetische Belastung durch Eltern, Großeltern – Konkordanz bei monozygoten Zwillingen bis zu 50 %!
    • genomweite Assoziationsstudie (GWAS) hat acht Genvarianten gefunden, die die Essstörung mit Stoffwechselerkrankungen (Typ-1-Diabetes oder anderen Autoimmunerkran­kungen) und mit anderen psychiatrischen Erkrankungen (Angstzustände, Depressio­n, Schizo­phrenie und Zwangsstörungen) in Ver­bin­dung bringen [2].
  • Lebensalter Pubertät
  • Übergewicht in der Kindheit
  • Homo- und Bisexualität bei Männern [1]
  • Berufe – Berufsgruppen wie Balletttänzerinnen, Models, Sportler (Sportmagersucht; besonders in ästhetisch-kompositorischen Sportarten wie rhythmische Sportgymnastik oder Synchronschwimmen – aber auch Skispringer und einige Ausdauerathleten)

Verhaltensbedingte Ursachen

  • Ernährung
    • Immer wiederkehrendes Diätverhalten
    • Gezügeltes Essverhalten 
  • Psycho-soziale Situation
    • Angst vor Adipositas
    • Angst vor Überforderung
    • Erfahrungen von Verlust und Ablehnung
    • Emotionale Vernachlässigung
    • Familiäre Faktoren wie Überbehütung und Konfliktvermeidung
    • Familiäre Probleme bzw. Konflikte mit Gleichaltrigen
    • Fehlendes Selbstwertgefühl
    • Körperliche Misshandlung in der Vergangenheit
    • Niedriges Selbstwertgefühl
    • Perfektionismus
    • Psychiatrische Erkrankungen wie Depressionen im familiären Umfeld
    • Sexueller Missbrauch
    • Unzufriedenheit mit dem eigenen Aussehen (Selbstwertprobleme)
    • Zwanghafter, perfektionistischer Charakter

Krankheitsbedingte Ursachen

  • Diabetes mellitus Typ 2 – Zuckerkrankheit, die überwiegend im Kindes- und Jugendalter auftritt

Medikamente, die Ursache einer Appetitlosigkeit sein können

  • Anthelminthika (Diethylcarbamazin)
  • Antidepressiva
    • Selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI) – Fluoxetin
  • Antiepileptika (Topiramat)
  • Antibiotika
    • Cotrimoxazol
    • Makrolide (Spiramycin)
  • Antiviralia (Amantadin)
  • Folsäureantagonist (Methotrexat)
  • Fusionsinhibitoren (Enfuvirtid)
  • Immunsuppressiva (Azathioprin, Ciclosporin (Cyclosporin A), Mercaptopurin)
  • Immuntherapeutika (Mitoxantron)
  • Levodopa (L-Dopa)
  • Muskelrelaxantien (Baclofen)
  • Neurokinin-Antagonisten (Aprepitant, Fosaprepitant)
  • Nicht-Opioid-Analgetika (Flupirtin)
  • Non-Benzodiazepine (Zaleplon, Zolpidem, Zopiclon, Zaleplon)
  • Urikosurika (Probenecid, Benzbromaron)

Weitere Ursachen

  • Schlankheitswahn der Gesellschaft

Literatur

  1. Feldman MB, Meyer IH: Eating disorders in diverse lesbian, gay, and bisexual populations. International Journal of Eating Disorders 2007. 40;3:218-226
  2. Watson HJ et al.: Genome-wide association study identifies eight risk loci and implicates metabo-psychiatric origins for anorexia nervosa Nature Genetics 2019 https://doi.org/10.1038/s41588-019-0439-2