Plasmaproteomik als Schlüssel zur Entschlüsselung von Organalter, Gesundheitsspanne und Langlebigkeit

Die kürzlich in Nature Medicine veröffentlichte Studie von Oh et al. (2025) zeigt, dass das Blutplasma (flüssiger Blutanteil ohne Zellen) wertvolle Informationen über das biologische Alter einzelner Organe liefert. Durch die Analyse von mehr als 2.900 Plasmaproteinen (Eiweiße) aus 44.498 Probanden der UK Biobank konnte ein Zusammenhang zwischen organbezogener Alterung, Erkrankungsrisiken und Lebenserwartung aufgedeckt werden. Besonders Gehirn (Zentralnervensystem) und Immunsystem erwiesen sich als Schlüsselfaktoren für die Langlebigkeit.

Methodik und Studiendesign

  • Analyse von Plasma (flüssiger Blutanteil) aus 44.498 Teilnehmenden (40-70 Jahre) mithilfe der Olink-Plattform (Proteinmessverfahren)
  • Bestimmung organ-spezifischer Proteinsignaturen (Muster von Eiweißen) für 11 Organe
  • Anwendung von Machine-Learning-Modellen (künstliche Intelligenz), um aus Proteinmustern das biologische Organalter (Abweichung vom tatsächlichen Alter) abzuleiten
  • Beobachtungszeitraum: bis zu 17 Jahre Nachverfolgung für Krankheits- und Sterbefälle

Kernergebnisse der Studie

  • Organalter (biologisches Alter eines Organs) korreliert nur schwach zwischen den Organen – jedes Organ altert individuell.
  • Gealterte Organe erhöhen das Risiko für organbezogene Erkrankungen:
    • Herzalter → Vorhofflimmern (Herzrhythmusstörung), Herzinsuffizienz (Herzschwäche)
    • Nieren- und Pankreasalter (Bauchspeicheldrüse) → chronische Nierenerkrankung (CKD)
    • Lungenalter → COPD (chronisch obstruktive Lungenerkrankung)
    • Hirnalter → Alzheimer-Demenz (Gedächtniserkrankung)
  • Das Risiko steigt mit der Anzahl gealterter Organe:
    • 2-4 Organe → HR 2.3
    • 5-7 Organe → HR 4.5
    • 8+ Organe → HR 8.3
  • Ein jugendliches Gehirn und Immunsystem sind mit reduzierter Mortalität (Sterblichkeit) assoziiert (HR 0.44, wenn beide jung sind).

Bedeutung von Gehirn und Immunsystem

  • Ein gealtertes Gehirn erhöht das Alzheimer-Risiko ähnlich stark wie das APOE4-Allel (genetischer Risikofaktor).
  • Ein jugendliches Gehirn wirkt schützend wie zwei APOE2-Allele (genetischer Schutzfaktor), unabhängig vom genetischen Hintergrund.
  • Die Kombination aus jugendlichem Gehirn und jungem Immunsystem geht mit der höchsten Überlebenswahrscheinlichkeit einher.

Einfluss modifizierbarer Faktoren

  • Lebensstilfaktoren, die das Organalter günstig beeinflussen:
    • Regelmäßige Bewegung (Sport)
    • Konsum von fettem Fisch (Omega-3-Fettsäuren)
    • Ausgewogene Ernährung mit Geflügel und Gemüse
    • Höherer Bildungsgrad
  • Faktoren, die Organalterung beschleunigen:
    • Rauchen
    • Alkohol- und verarbeitete Fleischprodukte
    • Chronische Schlafstörungen
    • Sozioökonomische Benachteiligung (geringer sozialer Status)
  • Medikamente und Nahrungsergänzungen mit assoziierten positiven Effekten:
    • Östrogenpräparate (Hormonersatztherapie)
    • Ibuprofen (entzündungshemmendes Schmerzmittel)
    • Glucosamin (Nahrungsergänzung für Gelenke)
    • Fischöl (Quelle für Omega-3-Fettsäuren)
    • Multivitamine, Vitamin C

Molekulare Mechanismen

  • Wichtige Proteine für die Hirnalterung: Neurofilament Light Chain (NEFL; Eiweiß der Nervenfasern), Glial Fibrillary Acidic Protein (GFAP; Eiweiß der Astrozyten), Brevican Core Protein (BCAN; Bestandteil der extrazellulären Matrix im Gehirn), Myelin Oligodendrozyten Protein (MOG; Eiweiß der Myelinscheiden), Protein Tyrosine Phosphatase Receptor Type R (PTPRR; regulatorisches Eiweiß in Nervenzellen).
  • Oligodendrozyten (Nervenzellen, die Myelin bilden) und weiße Substanz stehen im Zentrum der altersbedingten Veränderungen im Gehirn.
  • Für das Immunsystem spielen neuroinflammatorische Signalwege (Entzündungswege) mit Proteinen wie Matrix-Metalloproteinase 9 (MMP9; Enzym, das die extrazelluläre Matrix abbaut), Tumor Necrosis Factor Receptor Superfamily Member 1B (TNFSF1B; Rezeptor für Entzündungssignale) und Integrin Alpha M (ITGAM; auch CD11B genannt; Adhäsionsmolekül auf Immunzellen) eine wesentliche Rolle.
  • Die erhaltene Integrität der extrazellulären Matrix (Stützstruktur zwischen den Zellen) im Gehirn und eine verringerte chronische Entzündung scheinen entscheidend für Langlebigkeit zu sein.

Klinische Relevanz

  • Plasmaproteomik (Analyse von Eiweißen im Blut) ermöglicht eine nicht-invasive Bestimmung des biologischen Organalters und eröffnet Perspektiven für die Präzisionsmedizin (individuell angepasste Medizin).
  • Besonders für die Vorbeugung neurodegenerativer Erkrankungen (Abbau von Nervenzellen) und die Einschätzung der Gesundheitsspanne bietet diese Technologie einen potenziellen Biomarker (Messwert).
  • Für Frauenärzte und Endokrinologen ergeben sich Anwendungsfelder im Monitoring von Hormonersatztherapien, da insbesondere ein junges Immunsystem durch Östrogensubstitution erhalten werden kann.
  • Die Methode könnte künftig zur Beurteilung individueller Therapiestrategien in der Langlebigkeitsmedizin eingesetzt werden.

Limitationen und Ausblick

  • Die Kohorte (Studiengruppe) besteht überwiegend aus Personen europäischer Herkunft – Ergebnisse sind nicht ohne Weiteres übertragbar.
  • Querschnittsmessungen erlauben keine genaue Bestimmung der individuellen Alterungsrate.
  • Interventionsstudien sind notwendig, um den kausalen Nutzen von Lebensstil oder Medikamenten zu überprüfen.
  • Weitere Forschung ist erforderlich, um die klinische Anwendung der Proteomik-Modelle für organbezogene Alterung zu validieren.

Fazit

Plasmaproteomik liefert einen tiefen Einblick in die biologische Alterung einzelner Organe. Besonders der Zustand von Gehirn und Immunsystem ist eng mit Gesundheitsspanne und Langlebigkeit verknüpft. Diese Erkenntnisse eröffnen neue Möglichkeiten für präventive Strategien und personalisierte Medizin im Kontext des Alterns.

Literatur

  1. Oh H.SH, Le Guen Y, Rappoport N, Urey DY, Farinas A, Rutledge J, Channappa D, Wagner AD, Mormino E, Brunet A, Greicius MD, Wyss-Coray T. Plasma proteomics links brain and immune system aging with healthspan and longevity. Nature Medicine. 2025. https://doi.org/10.1038/s41591-025-03798-1