Hyposensibilisierung

Die Hyposensibilisierung (veraltet: Desensibilisierung), die auch als spezifische Immuntherapie (SIT) oder Allergieimpfung bezeichnet wird,  ist ein Verfahren, das in der Allergologie angewendet wird. Diese Therapieform wird zur Behandlung bzw. Heilung von Allergien angewendet und gilt als deren einzige kausale Behandlung.

Eine Allergie ist eine angeborene oder erworbene Veränderung des Reaktionsmusters des Immunsystems auf körperfremde, unschädliche Substanzen. Diese Substanzen werden auch als Allergene bezeichnet. Der Körper reagiert bei Kontakt mit dem Allergen mit einer überschießenden Immunreaktion an der Haut, dem Gefäßsystem, den Konjunktiven (Bindehaut), der Nasenschleimhaut, der Rachenschleimhaut, der Bronchialschleimhaut oder dem Magen-Darm-Trakt. Durch die Hyposensibilisierung wird der Patient gegen das allergieauslösende Allergen desensibilisiert und eine Allergentoleranz erzeugt.

Die Hyposensibilisierung ist angezeigt, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind:

  • Nachweis einer Typ-I-Allergie. Bei nicht IgE vermittelten Allergien ist die Hyposensibilisierung unwirksam.
  • Das Allergen ist durch Tests sicher bestimmt worden.
  • Es dürfen nur wenige Allergene für die Allergie verantwortlich sein.
  • Expositionsprophylaxe ist nicht möglich! Berufsbedingte Allergien können besser durch einen Berufswechsel "therapiert" werden.

Die Hyposensibilisierung eignet sich besonders für Kinder und junge Erwachsene, da hier die Wirksamkeit am besten ist. Die Therapie ist bei schwerer Allergie, die nicht mit Allergenkarenz (Beseitigung von Haustieren etc.) oder Pharmakotherapie (z. B. Antihistaminika) zu kontrollieren ist, indiziert.

Die subkutane spezifische Immuntherapie bei Insektengiftallergie (VIT, engl. venom immunotherapy) gilt weltweit als eine der wirksamsten Hyposensibilisierungsverfahren.

Indikationen (Anwendungsgebiete)

  • Allergische Rhinokonjunktivitis – Heuschnupfen
  • Asthma bronchiale
  • Hausstaubmilbenallergie
  • Insektengiftallergie – Wespen- oder Bienengift
  • Pollen- und Gräserallergie
  • In Einzelfällen bei: Medikamentenallergie, Schimmelpilzallergie, Tierepithelien- und Nahrungsmittelallergie

Kontraindikationen (Gegenanzeigen)

  • Teil- oder unkontrolliertes Asthma bronchiale (FEV1 < 70 % des Sollwertes trotz adäquater Therapie)
  • Autoimmunerkrankungen (exkl. Hashimoto-Thyreoiditis, rheumatoide Arthritis, Colitis ulcerosa und Morbus Crohn sowie Typ-1-Diabetes)
  • Immundefizienz (Abwehrschwäche)
    Hinweis: Die Applikation von Immunsuppressiva stellt keine Kontraindikation für eine Allergen-Immuntherapie (AIT) dar.
  • Akute und chronische rezidivierenden Erkrankungen der Mundhöhle 
  • Bösartige Neubildungen mit aktuellem Krankheitswert
  • Beginn einer SIT in der Schwangerschaft; die Fortführung einer SIT bei Eintritt einer Schwangerschaft macht keine Probleme
  • Entzündliche gastrointestinale Erkrankung (z. B. eosinophile Ösophagitis) 
  • Kardiovaskuläre Krankheiten mit erhöhtem Risiko von Nebenwirkungen durch eine Adrenalingabe
  • Offene Wunden
  • Medikamente
    • ACE-Hemmer: Kontraindikation (K.I.; Gegenanzeige) für SCIT mit Insektengift
    • Betablocker (auch als Augentropfen): K.I. für SCIT, nicht aber für SLIT

SIT = spezifische Immuntherapie
SCIT = subkutane Immuntherapie
SLIT = sublinguale Immuntherapie

Ein Anspruch auf Vollständigkeit der oben genannten Kontraindikationen besteht nicht!

Vor der Hyposensibilisierung

  • Gründliche Diagnostik: Allergietests zur Bestätigung der spezifischen Allergene und medizinische Untersuchung zur Beurteilung des Gesundheitszustandes.
  • Detaillierte Anamnese: Erfassung der Krankheitsgeschichte, früherer allergischer Reaktionen und aktueller Medikation.
  • Aufklärungsgespräch: Informationen über Ablauf, Dauer, erwartete Ergebnisse und mögliche Nebenwirkungen der Hyposensibilisierung.
  • Planung der Behandlung: Festlegung des Therapieschemas und Anpassung an individuelle Bedürfnisse.
  • Medikamentöse Vorbereitung: Überprüfung und Anpassung der aktuellen Medikation zur Vermeidung von Wechselwirkungen.
  • Lebensstil-Anpassungen: Vermeidung von Allergieauslösern und Empfehlungen zu Ernährung und Lebensstil.
  • Notfallplan: Erstellung eines Notfallplans für allergische Reaktionen während der Therapie und Bereitstellung von Notfallmedikamenten.
  • Terminplanung: Festlegung regelmäßiger Termine und Klärung der Verfügbarkeit für Besuche beim Arzt.
  • Psychologische Vorbereitung: Mentale Vorbereitung auf die Langfristigkeit der Therapie und Unterstützung durch Beratung oder Selbsthilfegruppen.

Das Verfahren

Das Verfahren wird folgendermaßen praktisch durchgeführt: Zunächst wird durch eine Allergiediagnostik (z. B. Pricktest) das Allergen ermittelt. Dieses Allergen wird dem Patienten für die Hyposensibilisierung anfangs in geringer Konzentration gespritzt. Das Allergenpräparat ist standardisiert und speziell für die Allergie des Patienten ausgewählt. Anschließend wird es in aufsteigender Konzentration in regelmäßigen Abständen weiter verabreicht, bis die sogenannte Erhaltungsdosis erreicht ist. Dabei handelt es sich um die Dosis, die gerade noch keine Nebenwirkungen auslöst. Diese Erhaltungsdosis wird nun über einen Zeitraum von drei bis fünf Jahren regelmäßig gespritzt, um den andauernden Therapieerfolg zu gewährleisten.

Die
ganzjährige Immuntherapie (perennial immunotherapy, PIT) ist besser geeignet als eine Kurzzeittherapie (präsaisonale spezifische Immuntherapie, PSIT), um die Symptome einer Pollenallergie zu bessern [3].

Das Allergenextrakt wird auf unterschiedlichen Wegen appliziert:

  • subkutane Injektion (SCIT) – wirksamste und häufigste Methode, die vor allem bei Allergien des Respirationstraktes (Atemwege) und bei Insektengiftallergie angewendet wird
  • orale Gabe – mittels eines wässrigen Extraktes oder einer Kapsel, vor allem bei Birkenallergie und Hausstaubmilbenallergie
  • lokale Gabe nasal, bronchial und sublingual (unter der Zunge; SLIT)

Die durchschnittliche Dosierung beispielsweise des Hymenopterengifts beträgt 100 µg bei Kindern (ggf. auch 50 µg) und Erwachsenen.

Das genaue Wirkprinzip der Hyposensibilisierung ist bislang nicht aufgeklärt. Folgende Wirkmechanismen sind jedoch bekannt: Bei Allergikern dominiert die TH2-vermittelte Immunantwort. Diese proallergische Antwort wird schrittweise zu einer antiallergischen TH1-vermittelte Immunantwort verschoben. Außerdem wird die Anzahl der Mastzellen verringert. Diese Zellen setzen die Mediatoren (Histamin) für die allergische Reaktion frei, sodass es zur klinischen Allergie kommt.

Eine gute Datenlage zur Wirksamkeit der sublingualen spezifischen Immuntherapie (SLIT) besteht für folgende Indikationen: Rhinokonjunktivitis (allergische Entzündung der Nasenschleimhaut in Verbindung mit einer allergisch bedingten Erkrankung der Bindehaut) durch eine Pollenallergie bei Kindern und Erwachsenen und bei Erwachsenen mit einer Baumwoll-Allergie, Hausstaubmilbenallergie bei Erwachsenen, allergisches Asthma bronchiale und allergisches Asthma durch Gräserpollen [Leitlinien: S2e-Leitlinie, S2k-Leitlinie]. 

Risikofaktoren für systemische Reaktionen bei einer Allergenimmuntherapie (AIT) [Leitlinien: S2k-Leitlinie,  EAACI Guidelines]

  • Anaphylaktische Reaktionen nach subkutaner Immuntherapie (SCIT) oder sublingualer Immuntherapie (SLIT) in der Anamnese
  • Asthma bronchiale, unkontrolliertes und schweres
  • Mastzellenerkrankungen
  • Nicht ausreichend eingestellter Hypertonus (Bluthochdruck), Hyperthyreoidismus (Schilddrüsenüberfunktion)
  • Klinische Allergiesymptome zum Zeitpunkt der AIT; gleiches gilt für natürliche Allergenexposition zum Zeitpunkt der AIT
  • Starke Sensibilisierung gegen das zu AIT verabreichte Allergen
  • Situative Faktoren sind z. B. körperliche Belastung (z. B. Sport), Alkoholkonsum, Stress, Infekte
  • Überdosierung des Allergens
  • Falsche Injektionstechnik

Nach der Behandlung

Eine Hyposensibilisierung ist nicht ungefährlich, da es jederzeit zu überschießenden Reaktionen bis zum anaphylaktischen Schock kommen kann. Da diese Reaktion immer in einem Zeitraum von 30 Minuten nach der Allergenapplikation auftritt, muss der Patient während dieser Zeit überwacht werden, um bei Komplikationen notfallmedizinische Maßnahmen ergreifen zu können.

Nach der Hyposensibilisierung

  • Regelmäßige Nachkontrollen: Terminvereinbarungen für regelmäßige Überprüfungen des Therapiefortschritts und der Verträglichkeit.
  • Symptomtagebuch führen: Dokumentation von allergischen Reaktionen, Nebenwirkungen und allgemeinem Befinden.
  • Anpassung der Therapie: Diskussion der Ergebnisse und eventuelle Anpassungen der Behandlung basierend auf den Rückmeldungen des Patienten.
  • Fortsetzung der Allergenvermeidung: Weiterhin Allergenexposition minimieren, insbesondere während der Pollensaison.
  • Medikamentöse Nachsorge: Überprüfung und gegebenenfalls Anpassung der begleitenden Medikation.
  • Langzeitbeobachtung: Erfassung des Langzeiteffekts der Therapie auf Allergiesymptome und Lebensqualität.
  • Weitere Allergieberatung: Information und Beratung zu Präventionsstrategien und Umgang mit Allergien im Alltag.
  • Psychische Unterstützung: Gegebenenfalls fortgesetzte psychologische Betreuung zur Bewältigung von Therapiebelastungen.
  • Lebensstilmodifikationen: Fortsetzung gesundheitsfördernder Maßnahmen, wie Ernährungsumstellungen oder Stressmanagement.
  • Notfallplan aktualisieren: Überprüfung und Aktualisierung des Notfallplans bei Bedarf.

Mögliche Komplikationen

  • Nebenwirkungen der SCIT (subkutane Immuntherapie): allergische Reaktionen bis hin zur Anaphylaxie (schwerste Form einer allergischen Reaktion, die schnell lebensbedrohlich werden kann)
  • Nebenwirkungen der SLIT (sublinguale Immuntherapie): im Vergleich zur SCIT sind leichte Nebenwirkungen häufiger und schwerwiegende Nebenwirkungen seltener
  • Weitere Nebenwirkungen sind Schmerzen, Juckreiz, Erythem, Ödeme oder eine Verschlechterung der Grunderkrankung.

Wegen der möglichen schwerwiegenden Anaphylaxie durch eine SCIT muss die Praxis zur Behandlung einer Anaphylaxie ausgerüstet sein. Zur Mindestausstattung zählen: Defibrillator, Infusion, Adrenalin, Antihistaminikum, Beta-2-Sympatomimetikum (zur Inhalation) und Corticoide (zur intravenösen Injektion).

Ihr Nutzen

Die Hyposensibilisierung ist die wirkungsvollste und einzige langfristige Maßnahme gegen eine Allergie. Allergien können die Lebensqualität erheblich mindern und in Einzelfällen eine ständige akute Lebensgefahr bedeuten. Außerdem reduziert diese Therapie die allergiebedingten Krankenhausaufenthalte und verringert damit die Arzneikosten. Aus diesen Gründen empfiehlt sich die Hyposensibilisierung.

Literatur

  1. Müller A: Basics Allergologie. Elsevier, Urban & Fischer Verlag 2006
  2. Mayatepek E: Lehrbuch Pädiatrie. Elsevier, Urban & Fischer Verlag 2007
  3. Tworek D et al.: Perennial is more effective than preseasonal subcutaneous immunotherapy in the treatment of seasonal allergic rhinoconjunctivitis. Am J Rhinol Allergy 2013, online 29. April. doi: 10.2500/ajra.2013.27.3935

Leitlinien

  1. S2-Leitlinie „Anaphylaxie, Akuttherapie und Management“ unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Allergologie und klinische Immunologie, Allergo J Int 2014; 23: 96
  2. S2k-Leitlinie: (Allergen-) spezifische Immuntherapie bei IgE vermittelten allergischen Erkrankungen. (AWMF-Registernummer: 061 - 004), Oktober 2014 Langfassung
  3. Roberts G, Pfaar O, Akdis CA et al.: EAACI guidelines on allergen immunotherapy. Allergic rhinoconjunctivitis. Allergy 2018;73(4):765–798. https://​doi.​org/​10.​1111/​all.​13317

     
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