Gleichgewichtsstörung der Darmflora (Dysbiose) – Anamnese

Die Anamnese (Krankengeschichte) stellt einen wichtigen Baustein in der Diagnostik der Dysbiose (Gleichgewichtsstörung der Darmflora) dar.

Familienanamnese

  • Gibt es in Ihrer Familie Erkrankungen des Magen-Darm-Traktes, wie z. B. Nahrungsmittelunverträglichkeiten (z. B. Laktoseintoleranz (Milchzuckerunverträglichkeit), Zöliakie) oder chronisch-entzündliche Darmerkrankungen (z. B. Morbus Crohn, Colitis ulcerosa)?
  • Gibt es Autoimmunerkrankungen in Ihrer Familie, die den Verdacht auf eine genetische Prädisposition für Dysbiosen lenken könnten (z. B. Morbus Crohn, Colitis ulcerosa, Hashimoto-Thyreoiditis, Rheumatoide Arthritis, Multiple Sklerose)?

Sozialanamnese

  • Gibt es Hinweise auf psychosoziale Belastungen oder familiäre Stressfaktoren, die Ihre Beschwerden verstärken könnten?
  • Arbeiten Sie in einem Beruf, der mit Chemikalien, Antibiotika oder anderen Substanzen in Kontakt kommt, die die Darmflora beeinflussen könnten?
  • Hat sich Ihr Lebensstil in letzter Zeit verändert (z. B. erhöhter Stress, weniger Bewegung)?

Aktuelle Anamnese/Systemanamnese (somatische und psychische Beschwerden)

  • Leiden Sie häufig an einem aufgeblähten Bauch (Blähbauch)?
  • Haben Sie Völlegefühl, auch ohne größere Mahlzeiten?
  • Spüren Sie krampfartige Schmerzen im Bauch?
  • Haben Sie Veränderungen der Stuhlfrequenz bemerkt (z. B. vermehrter Durchfall, Verstopfung oder Wechsel zwischen beiden)?
  • Wie sieht der Stuhl aus? (Farbe, Konsistenz, Schleimbeimengungen, Geruch)
  • Haben Sie einen auffälligen Geruch oder Fäulnisgeruch des Stuhls bemerkt?
  • Leiden Sie unter Erschöpfungszuständen, Müdigkeit oder Konzentrationsschwierigkeiten?
  • Haben Sie häufig Kopfschmerzen oder Migräne?
  • Ist Ihnen häufig übel?
  • Haben Sie ein Unwohlsein nach dem Essen?
  • Haben Sie Hautprobleme wie Ekzeme, Akne oder Rötungen bemerkt, die zeitgleich mit Darmbeschwerden auftreten?
  • Bemerken Sie vermehrt Allergien oder Unverträglichkeiten gegenüber Lebensmitteln?

Vegetative Anamnese inkl. Ernährungsanamnese

  • Haben Sie an Körpergewicht verloren? Wenn ja, war dies beabsichtigt oder ungewollt?
  • Essen Sie häufig zuckerreiche Lebensmittel (Mono- und Disaccharide (Einfach- und Zweifachzucker), z. B. Saccharose/Haushaltszucker) oder Weißmehlprodukte?
  • Nehmen Sie regelmäßig fermentierte Lebensmittel (z. B. Joghurt, Sauerkraut) zu sich?
  • Essen Sie viel fett- oder proteinreiche Speisen?
  • Ernähren Sie sich vegetarisch, vegan oder mit eingeschränkten Lebensmittelgruppen?
  • Haben Sie eine Unverträglichkeit gegenüber bestimmten Lebensmitteln festgestellt?
  • Trinken Sie Kaffee, schwarzen oder grünen Tee? Wenn ja, wie viele Tassen pro Tag?
  • Trinken Sie koffeinhaltige oder gesüßte Getränke? Wenn ja, wie viel pro Tag?
  • Trinken Sie Alkohol? Wenn ja, welches Getränk bzw. welche Getränke und wie viele Gläser pro Tag?
  • Rauchen Sie? Wenn ja, wie viele Zigaretten, Zigarren oder Pfeifen pro Tag?
  • Nehmen Sie Drogen? Wenn ja, welche Drogen und wie häufig?

Eigenanamnese

  • Vorerkrankungen:
    • Haben Sie bekannte Magen-Darm-Erkrankungen (z. B. Reizdarmsyndrom, Morbus Crohn, Colitis ulcerosa)?
    • Leiden Sie unter Stoffwechselerkrankungen (z. B. Diabetes mellitus, Steatosis hepatis (Fettleber))?
    • Haben Sie Allergien oder Unverträglichkeiten (z. B. Gluten- oder Laktoseintoleranz/Milchzuckerunverträglichkeit)?
  • Operationen und Therapien:
    • Wurden bei Ihnen Operationen am Magen-Darm-Trakt durchgeführt?
    • Haben Sie eine Radiotherapie (Strahlentherapie) erhalten?
  • Medikamenteneinnahme:
    • Haben Sie in letzter Zeit Antibiotika eingenommen?
    • Nehmen Sie regelmäßig Protonenpumpenhemmer (Säureblocker)?
    • Haben Sie eine Langzeittherapie mit entzündungshemmenden Medikamenten (z. B. NSAR wie Ibuprofen) durchgeführt?
    • Nehmen Sie Hormonpräparate oder andere Medikamente, die den Stoffwechsel beeinflussen können?

Medikamentenanamnese [1, 2]

  • Analgetika/nichtsteroidale Antiphlogistika 
  • Antiinfektiva gegen Viren, Pilze oder Parasiten 
  • Antibiotika (breites Wirkspektrum reduziert die mikrobielle Diversität)
    Beachte: Je breiter das Wirkspektrum und je länger die Therapiedauer, desto stärker ist die Mikrobiom-Schädigung!
    • Die häufige bzw. langfristige Behandlung von Frühgeborenen mit Antibiotika führte zu einer starken Störung der Darmflora: es fanden sich bei einer Nachuntersuchung im Alter von 21 Monaten weniger „gesunde“ Bakteriengruppen wie Bifidobacteriaceae (einzige Bakterienfamilie in der Reihenfolge der Bifidobacteriales) und häufiger „ungesündere“ Arten wie Proteobakterien (= „mikrobiotische Narbe“) [4].
    • Die Bakterienflora ist innerhalb von 30 bis 90 Tagen nach Medikamentenbehandlung weitgehend regeneriert, es verändert sich allerdings deren Wechselspiel mit den Pilzen, die ebenfalls den Darm besiedeln [5].
  • Antidepressiva – atypische Antipsychotika
  • Antihistaminika
  • Betablocker
  • Benzodiazepine
  • Corticoide (Cortisol)
  • Gold (bakterizid)
  • Laxantien (osmotische Laxantien)
  • Metformin
  • Ovulationshemmer
  • Protonenpumpenhemmer (Protonenpumpeninhibitoren, PPI; Säureblocker) (wg. blockierter Magensäureproduktion)
  • Statine
  • Zytostatika
  • u. a.

Beachte: Nicht nur Antibiotika töten Darmbakterien ab; von mehr als 1.000 zugelassenen Wirkstoffen verändert jeder vierte Wirkstoff die Zusammensetzung der Darmflora [3].

Hier ist eine strukturierte, ausschließlich auf Humanstudien basierende Zusammenfassung der negativ und positiv auf das intestinale Mikrobiom wirkenden Medikamente gemäß der großen Metaanalyse aus drei niederländischen Kohorten (general population, IBD, IBS) [6]:

Medikamente mit negativen Wirkungen auf die Darmmikrobiota (Humanstudien)

Substanzgruppe Mikrobiologische Veränderungen Funktionelle Veränderungen / Resistom
Protonenpumpenhemmer (PPI) ↑ Streptococcus spp., ↑ Veillonella parvula, ↑ orale Keime (z. B. S. salivarius), ↓ Ruminococcus, ↓ Dorea ↑ Glykolyse, ↓ Aminosäurebiosynthese, ↑ Resistenzgene (tetA, tetB, Mel), ↑ L-Arginin-Stoffwechsel
Laxanzien (v. a. Polyethylenglykol) ↑ Bacteroides, ↑ Alistipes, ↓ Diversität ↑ Glykolyse, ↓ Stärkeabbau, ↑ osmolare Stressantwort
Antibiotika (v. a. Tetrazykline) ↓ Bifidobacterium spp., ↓ Diversität ↓ Aminosäure- und SCFA-Biosynthese, ↑ Resistenzgene
SSRI-Antidepressiva (v. a. Paroxetin) ↑ Eubacterium ramulus, ↑ Streptococcus spp. ↓ Peptidoglykanmaturation, ↑ Resistenzmarker
Trizyklische Antidepressiva ↑ Clostridium leptum, ↑ Resistenzgene (inkl. mdtP, TolC) ↑ Methanogenese (bei gleichzeitiger Steroidgabe)
Orale Steroide ↑ Methanobrevibacter smithii ↑ Methanogenese, ↑ Biosynthese von Vitamin B2 und Nukleotiden
Statine ↑ Streptococcus parasanguinis, ↑ Resistenzgen TolC Funktionelle Veränderungen nicht primär pathogenetisch, aber resistomrelevant
Opiate ↑ S. salivarius, ↑ H. parainfluenzae (v. a. bei IBD) ↑ Resistenzgenbelastung (FDR < 0.25)

Medikamente mit positiven oder protektiven Effekten auf die Darmmikrobiota (Humanstudien)

Substanzgruppe Mikrobiologische Veränderungen Funktionelle Veränderungen / Vorteile
Metformin ↑ Escherichia coli (umstritten), ↑ SCFA-produzierende Wege (z. B. Butyrat), keine eindeutige Taxa-Änderung nach Multivariatanalyse ↑ Butanoat-Produktion, ↑ Zuckerabbau, ↑ Quinon-Biosynthese, ↑ Resistenz emrE (nicht primär pathologisch)
Vitamin-D-Supplemente ↑ Streptococcus salivarius (unspezifisch), Tendenz zu ↑ Bifidobacterium dentium keine eindeutigen funktionellen Vorteile gesichert
Tenofovir / Entecavir (in anderen Humanstudien, nicht in dieser Kohorte direkt getestet) ↑ Akkermansia, ↑ Blautia, ↑ Alpha-Diversität (laut anderen Humanstudien) Verbesserung Barrierefunktion (nicht Teil dieser Metaanalyse, aber relevant aus Literatur)

Zusammenfassende Bewertung (basierend auf Metaanalyse mit FDR < 0.05) [6]

Negativ assoziierte Medikamente (mikrobiomverändernd):

  • Protonenpumpenhemmer (PPI)
  • Laxanzien
  • Antibiotika (insb. Tetrazykline)
  • SSRI-Antidepressiva
  • Trizyklische Antidepressiva
  • Orale Steroide
  • Opiate
  • Statine

Positiv oder regulierend wirkende Medikamente:

  • Metformin (über funktionelle Diversifizierung, v. a. SCFA-Produktion)
  • Vitamin-D (teils, aber nicht konsistent)

Wichtige Hinweise aus der Studie

  • PPI zeigten die stärksten Effekte auf Mikrobiota-Zusammensetzung und -Funktion: 133 metabolische Pathways signifikant verändert.
  • Metformin zeigte die größten funktionellen Veränderungen bei metabolischen Pfaden, obwohl kaum stabile Taxa-Verschiebungen nach Multivariatanalyse übrig blieben.
  • Antibiotika zeigten die stärkste Reduktion von Bifidobacterium – auch bei wenigen aktuellen Nutzern.
  • Laxanzien veränderten das Mikrobiom teils persistent (z. B. PEG-induzierte Mikrobiotadysbiose auch Wochen nach Einnahme).

Umweltanamnese

  • Haben Sie direkten Kontakt mit Schwermetallen wie Quecksilber, Blei oder Arsen (z. B. durch berufliche oder private Aktivitäten)?
  • Waren Sie in Gebieten mit hoher Luftverschmutzung (z. B. Feinstaub, Dieselabgase)?
  • Haben Sie mit Pestiziden, Düngemitteln oder chemischen Substanzen gearbeitet?
  • Haben Sie eine längere Zeit in Gebäuden mit Schimmelbelastung gelebt?

Unsere Empfehlung: Drucken Sie die Anamnese aus, markieren Sie alle mit „Ja“ beantworteten Fragen und nehmen Sie das Dokument mit zu Ihrem behandelnden Arzt.

Literatur

  1. Falony G et al.: Population-level analysis of gut microbiome variation. doi: 10.1126/science.aad3503
  2. Zhernakova A et al.: Population-based metagenomics analysis reveals markers for gut microbiome composition and diversity. doi: 10.1126/science.aad3369
  3. Maier L et al.: Extensive impact of non-antibiotic drugs on human gut bacteria. Nature Published online: 19 March 2018 doi:10.1038/nature25979
  4. Gasparrini AJ et al.: Persistent metagenomic signatures of early-life hospitalization and antibiotic treatment in the infant gut microbiota and resistome Nature Microbiology (09 September 2019)
  5. Seelbinder B et al.: Antibiotics create a shift from mutualism to competition in human gut communities with a longer-lasting impact on fungi than bacteria. Microbiome 2020;8,133.
  6. Vich Vila A et al.: Impact of commonly used drugs on the composition and metabolic function of the gut microbiota Nat Commun 11, 362 (2020). https://doi.org/10.1038/s41467-019-14177-z