Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung (AVWS) – Medizingerätediagnostik

Die auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung (AVWS) (Störung der zentralen Hörverarbeitung) ist eine Störung der zentralen Hörverarbeitung. Dabei liegt das Problem nicht im Bereich des äußeren (äußeres Ohr), mittleren (Mittelohr) oder inneren Ohres (Innenohr), sondern in der Verarbeitung und Interpretation akustischer Informationen im Gehirn. Kinder mit AVWS (Störung der zentralen Hörverarbeitung) hören normal laut, haben aber Schwierigkeiten, gesprochene Sprache – insbesondere bei Hintergrundgeräuschen – richtig zu verstehen, ähnlich klingende Laute zu unterscheiden oder Gehörtes zu behalten und zu verarbeiten.

Diagnostisches Vorgehen

Zur Diagnose einer AVWS (Störung der zentralen Hörverarbeitung) ist ein mehrstufiges, spezialisiertes Untersuchungsverfahren erforderlich. Voraussetzung ist der vorherige Ausschluss einer peripheren Hörstörung (z. B. Schallleitungsschwerhörigkeit durch Paukenerguss oder Schallempfindungsschwerhörigkeit). Erst bei gesicherter Normalhörigkeit kann die zentrale Hörverarbeitung überprüft werden.

Folgende zentrale Hörfunktionen werden getestet:

  • Laut- und Phonemdiskrimination (Unterscheidung ähnlich klingender Sprachlaute)
  • Dichotisches Hören (getrennte, simultane Reizdarbietung auf beiden Ohren)
  • Sprachverstehen im Störgeräusch (Verstehen von Sprache bei Lärm)
  • Auditorisches Kurzzeit- und Arbeitsgedächtnis (Merkfähigkeit für Gehörtes)
  • Zeitliche Auflösung und Ordnung akustischer Reize (zeitliche Abfolge von Tönen)

Die Testverfahren sind altersabhängig normiert. Eine verlässliche Diagnostik ist in der Regel ab dem Vorschul- bzw. Einschulalter (ca. 5–6 Jahre) möglich, da erst dann Aufmerksamkeit und Sprachkompetenz für standardisierte Tests ausreichend stabil sind.

Die Untersuchungen werden von Fachärzten für Phoniatrie und Pädaudiologie (Sprach-, Stimm- und Hörstörungen bei Kindern) durchgeführt; in Einzelfällen können auch entsprechend spezialisierte HNO-Ärzte (Hals-Nasen-Ohren-Ärzte) die Diagnostik übernehmen.

Da AVWS (Störung der zentralen Hörverarbeitung) häufig im Rahmen anderer Entwicklungsstörungen auftritt, ist eine interdisziplinäre Abklärung durch den Kinderarzt (Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin), Kinder- und Jugendpsychiater (Facharzt für seelische Störungen im Kindesalter) oder -psychologen (Fachpsychologe) angezeigt. Hierbei sollten insbesondere geprüft werden:

  • Sprachentwicklungsstörung (Sprachverzögerung)
  • Aufmerksamkeitsstörung (ADHS – Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung)
  • Lese-Rechtschreibstörung (Lernstörung beim Lesen und Schreiben)
  • Intelligenzminderung (verminderte geistige Leistungsfähigkeit) bzw. globale Entwicklungsstörung (verzögerte Entwicklung mehrerer Fähigkeiten)

Obligate Medizingerätediagnostik

  • Tonaudiogramm (Hörprüfung für verschiedene Tonhöhen) – zur Erfassung des subjektiven Hörvermögens für Luft- und Knochenleitung
  • Sprachaudiometrie (Sprachhörtest) – zur Beurteilung des Sprachverstehens in Ruhe und bei Störgeräuschen
  • Tympanometrie und Stapediusreflexmessung (Prüfung der Mittelohrbeweglichkeit) – zur Überprüfung der Mittelohrfunktion
  • Otoakustische Emissionen (Messung der Haarzellenaktivität im Innenohr) – zur objektiven Darstellung der äußeren Haarzellfunktion der Cochlea (Hörschnecke)
  • Hirnstammaudiometrie (BERA/ERA – Hirnstammhörtest) – zur Messung der neuronalen Antwort entlang des Hörnervs (Nervus cochlearis) und Hirnstamms
  • Recruitmentmessung (Lautheitsprüfung) – zur Differenzierung cochleärer (Innenohr-) und retrocochleärer (Hörnerv-) Hörstörungen

Diese Verfahren dienen dem Ausschluss einer peripheren Hörstörung und sind Voraussetzung für die zentrale AVWS-Diagnostik.

Fakultative Medizingerätediagnostik – in Abhängigkeit von den Ergebnissen der Anamnese, körperlichen Untersuchung, Labordiagnostik und obligaten Medizingerätediagnostik – zur differentialdiagnostischen Abklärung

  • Magnetresonanztomographie (MRT) (Kernspintomographie des Kopfes) des Felsenbeins/Gehirns – bei Verdacht auf zentrale Läsionen oder Fehlbildungen der zentral-auditiven Bahnen
  • Computertomographie (CT) (Röntgenschichtaufnahme) des Felsenbeins – bei Verdacht auf knöcherne Fehlbildungen des Mittel- oder Innenohres oder nach Trauma
  • Erweiterte zentral-auditive Tests (z. B. Gaps-in-Noise-Test, komplexe dichotische Tests, prosodische Wahrnehmung) – bei unklaren oder grenzwertigen Standardbefunden

Zusammenfassung

  • AVWS (Störung der zentralen Hörverarbeitung) ist eine zentrale Hörverarbeitungsstörung bei normalem peripheren Hören.
  • Die Diagnostik ist komplex, standardisiert und interdisziplinär eingebettet.
  • Grundlage ist eine vollständige audiologische Basisuntersuchung mit Ausschluss peripherer Hörstörungen.
  • Eine vollständige Diagnostik ist erst ab dem Vorschulalter zuverlässig möglich.
  • Bildgebende Verfahren (MRT, CT) sind nur bei Verdacht auf zentrale oder strukturelle Pathologien (krankhafte Veränderungen des Gehirns oder Gehörorgans) indiziert.
  • Komorbide Entwicklungsstörungen (Sprachstörung, ADHS, Lese-Rechtschreibstörung, Intelligenzminderung) müssen immer abgeklärt werden.

Leitlinien

  1. S1-Leitlinie: Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen. (AWMF-Registernummer: 049-012), September 2019 Langfassung