Ursachen
Reizdarmsyndrom

Pathogenese (Krankheitsentstehung)

Bis heute ist keine eindeutige Ursache für das Reizdarmsyndrom (RDS) gefunden worden und die Wissenschaft ist sich auch nicht sicher, ob es sich in der Tat um ein eigenständiges Krankheitsbild handelt.

Bislang hat gegolten, dass bei den meisten Patienten eine unter der Norm liegende Schmerzschwelle im Bereich des Darms vorliegt, was als Hyperalgesie (übermäßige Schmerzempfindlichkeit und Reaktion auf einen üblicherweise schmerzhaften Reiz) bezeichnet wird.
Die Hyperalgesie war als einziger Faktor in der Entstehung des Reizdarms in Studien übereinstimmend belegt worden. Inzwischen wurde nachgewiesen, dass ein Reizdarm weniger sensibel ist. Möglicherweise ist die Darmwand dieser Patienten offenbar desensibilisiert durch eine ursprünglich zu starke Aktivierung [2].
Weiterhin wird über eine gesteigerte Motorik im Dickdarm, gesteigertem Gasrückfluss in den Magen und eine stark verlängerte Durchgangszeit der Nahrung durch den Darm diskutiert.

Bei etwa einem Viertel der Reizdarm-Patienten ging der Erkrankung eine baktertielle Gastroenteritis (sogenanntes postinfektiöses RDS) voraus; damit verbunden ist möglicherweise eine Veränderung der Darmflora (Dysbiose) [bei 7-36 % der Patienten].

Des Weiteren werden diskutiert: eine persönliche Veranlagung (genetische Faktoren sowie erlernte Verhaltensmuster) sowie psychische Faktoren (traumatische Ereignisse), psychische Komorbiditäten (Depression, Angst etc.) und Stress.  Dadurch können Muskelverkrampfungen im Darm stark zunehmen – in der Folge steigt die Schmerzwahrnehmung [6].
Obwohl psychische Belastungen häufig Mitauslöser oder Symptom des Reizdarmsyndroms sind, bleibt die Erkrankung aber eine funktionelle Störung des Darms.

Es wird davon ausgegangen, dass es keinen alleinigen Auslöser für die Erkrankung gibt, sondern dass eine genetische Vorbelastung, falsche Ernährungsgewohnheiten sowie psychische Stresssituationen gemeinsam beteiligt sind.

Pathophysiologisch relevante molekulare und zelluläre Faktoren, die bei RDS auftreten können [S3-Leitlinie]:

  • Störungen der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse
  • Störungen des autonomen und enterischen Nervensystems
  • Mikrostrukturelle Auffälligkeiten sowie veränderte Signalverarbeitung in verschiedenen Hirnarealen
  • Reduzierte parasympathische Aktivität, d. h. sympathische Überaktivierung, die. möglicherweise mit einem erhöhten Stresslevel im Zusammenhang stehen.
  • Einfluss des hormonellen Status: höhere Östrogenspiegel sind mit einer reduzierten Darmmotilität assoziiert und periphere und zentrale Östrogenrezeptoren (ER1 und ER2) begünstigen eine östrogenbedingte Schmerzüberempfindlichkeit
  • Motilitätsstörungen (erhöhte bzw. reduzierte Transitzeit; vermehrte Gasproduktion) und veränderte intestino-intestinale Reflexe (Dehnung des Colon descendens/absteigender Dickdarm zeigten Reizdarmpatienten gegenüber Gesunden eine erhöhte Kolonmotilität/Dickdarmbeweglichkeit)
  • Veränderte Sensibilität (erniedrigte Schmerzschwelle): in den meisten Fällen liegt eine viszerale ("darmbezogene") Hypersensitivität vor
  • Gestörter Gallensäuremetabolismus: bis zu 15 % der RDS-O Patienten haben im Stuhl eine geringe Konzentration an Gesamt-Gallensäuren und eine reduzierte Desoxycholsäure- Konzentration
  • Störungen der Darmflora (Dysbiose) und der Schleimhautpermeabilität (verringerter Gewebewiderstand und verringerte Barrierefunktion)
  • Vorangegangene Antibiotikatherapien können Auslöser eines RDS sein. 
  • Immunmediatoren in Schleimhautbiopsien (erhöhte Freisetzung von: Defensinen, Histamin, Proteasen, Tryptase und Zytokine)
  • Immunmediatoren im Blut (erhöhte ACTH- und Cortisol-Spiegel)
  • Immunzellen in Schleimhautbiopsien (Mastzellen, intraepitheliale T-Zellen)
  • Serotoninmetabolismus (erhöhte Serotonin-Plasmaspiegel)
  • Ein RDS kann durch (infektiöse und nicht-infektiöse) intestinale Entzündung ausgelöst werden.
  • Zelluläre Veränderungen nach Infektion (z. B. erhöhte Mastzellzahl, vermehrt intraepitheliale Lymphozyten)
  • Änderung der Protease-vermittelten Funktionen: im Stuhl von RDS-D Patienten wurden erhöhte Proteasekonzentration (Serinproteasen) gemessen
  • Verändertes Fettsäurenmuster im Stuhl: Die Differenz zwischen Propionsäure und Buttersäure im Stuhl hat mit einer Sensitivität von 92 % und einer Spezifität von 72 % Biomarkerqualität; leicht erhöhte Lactoferrin-Spiegel
  • Psychischer Stress sowie Angst- und depressive Störung können im Rahmen eines psychosozialen Krankheitsmodell an der Entstehung und Aufrechterhaltung des RDS beteiligt sein.
  • Epigenetische Faktoren können in die Genese von RDS involviert sein; dazu gehören traumatische Erlebnisse, psychischer und psychologischer Stress etc.

Aktueller Konsens: Ein Reizdarmsyndrom wird als Störung der Darm-Hirn-Achse bezeichnet. RDS-Patienten haben Störungen der intestinalen Barriere, Motilität, Sekretion und/oder viszeralen Sensibilität. 

Ätiologie (Ursachen)

Biographische Ursachen

  • Genetische Belastung – es existiert eine genetische Prädisposition für RDS
    • Eine genomweite Assoziationsstudie (GWAS) beschreibt ein Risikogen auf dem Chromosom 9q31.2 (Genvariante rs10512344), welches vor allem den obstipationsprädominaten Typ begünstigt. Die Assoziation wurde nur bei weiblichen Patienten gefunden [5].

Verhaltensbedingte Ursachen

  • Ernährung
    • Zu hohe Aufnahme von Mono- und Disacchariden (Einfach- und Zweifachzucker) [6]
    • Zu geringe Aufnahme von Ballaststoffen [6]
    • Mikronährstoffmangel (Vitalstoffe) – siehe Prävention mit Mikronährstoffen
  • Genussmittelkonsum
    • Alkohol [6]
  • Psycho-soziale Situation
    • akuter und chronischer Stress (Dauerstress)
    • psychische Belastung

Krankheitsbedingte Ursachen

Mund, Ösophagus (Speiseröhre), Magen und Darm (K00-K67; K90-K93)

  • Funktionelle Dyspepsie (Reizmagen) [6]
  • Gastroenteritis (Magen-Darm-Grippe)
    • Gastrointestinale-Infektionen – unabhängig von deren Ursache wurde während der folgenden fünf Jahre signifikant häufiger eine Reizdarm-Diagnose gestellt [4]
    • Infektion mit Clostridium difficile im Sinne eines postinfektiösen RDS [3]
  • Leaky-Gut-Syndrom [6] – die Darmmukosa (Darmschleimhaut) ist zu durchlässig, sodass Stoffe in den Blutkreislauf gelangen, die dort nicht hingehören wie unvollständig gespaltene Nahrungsbestandteile oder Schadstoffe
  • Nahrungsmittelallergie
  • Nahrungsmittelintoleranzen (50-70 % der Fälle versus Normalbevölkerung: 20-25 %)

Muskel-Skelett-System und Bindegewebe (M00-M99)

  • Fibromyalgie (Fibromyalgie-Syndrom) [6] – Syndrom, welches zu chronischen Schmerzen (mindestens 3 Monate) in mehreren Körperregionen führen kann

Psyche – Nervensystem (F00-F99; G00-G99)

  • Essstörungen [6]
  • Psychische Vorerkrankungen (Risikoerhöhung 70 %) [4] – Ängste, Depressionen, Panikstörungen, Chronic-Fatigue-Syndrom [6]
  • Posttraumatischer Stress (Risikoerhöhung um das Fünffache) [1]

Labordiagnosen – Laborparameter, die als unabhängige Risikofaktoren gelten

  • Fructoseintoleranz (Fruchtzuckerunverträglichkeit) 
  • Lactoseintoleranz (Milchzuckerunverträglichkeit) wegen Lactasemangel
  • Sorbitintoleranz (Sorbitunverträglichkeit) – Störung der Verwertung von Sorbit im Dünndarm
    Sorbit entsteht durch sogenannte "katalytische Hydrierung" aus Glucose. Es wird im Körper in Fructose umgewandelt.
    Sorbit wird als Zuckeraustauschstoff vor allem bei Diabetiker-Produkten und energiereduzierten Lebensmitteln (z. B. Kaugummis) verwendet. Sorbit (Sorbitol) hat die E-Nummer 420

Medikamente

  • Vorangegangene Antibiotikatherapien können Auslöser eines RDS sein.
  • Zytotoxische Substanzen (Zustand nach Chemotherapie) [6]

Weitere Ursachen

  • Zustand nach Radiatio (Strahlentherapie) [6]

Literatur

  1. Iorio N et al.: Post-traumatic Stress Disorder Is Associated With Irritable Bowel Syndrome in African Americans. 2014; 20(4): 523-530 http://dx.doi.org/10.5056/jnm14040
  2. Ostertag D et al.: Reduced responses of submucous neurons from irritable bowel syndrome patients to a cocktail containing histamine, serotonin, TNF and tryptase (IBS-cocktail). Front. Neurosci. Nov. 2015 doi: 10.3389/fnins.2015.00465
  3. Gutiérrez RL, Riddle MS, Porter CK: Increased risk of functionalgastrointestinal sequelae after Clostridium difficile infection among active duty United States military personnel (1998-2010). Gastroenterology. 2015 Nov;149(6):1408-14. doi: 10.1053/j.gastro.2015.07.059. Epub 2015 Aug 7.
  4. Donnachie E et al.: Incidence of irritable bowel syndrome and chronic fatigue following GI infection: a population-level study using routinely collected claims data. Gut 2017, online 10. Juni http://dx.doi.org/10.1136/gutjnl-2017-313713
  5. Bonfiglio F et al.: Female-specific Association Between Variants on Chromosome 9 and Self-reported Diagnosis of Irritable Bowel Syndrome. Gastroenterology 2018 Apr 4. pii: S0016-5085(18)30407-4. doi: 10.1053/j.gastro.2018.03.064
  6. Fachgesellschaft für Ernährungstherapie und Prävention (FETeV): Reizdarmsyndrom (Colon irritabile) – Krankheitsbild und Ernährungstherapie. 14.02.2022

Leitlinien

  1. S3-Leitlinie: Definition, Pathophysiologie, Diagnostik und Therapie des Reizdarmsyndroms. (AWMF-Registernummer: 021-016), März 2021 Langfassung
     
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