Myasthenia gravis – Körperliche Untersuchung

Eine umfassende klinische Untersuchung ist die Grundlage für die Auswahl der weiteren diagnostischen Schritte:

  • Allgemeine körperliche Untersuchung – inklusive Blutdruck, Puls, Körpergewicht, Körpergröße
    • Inspektion (Betrachtung)
      • Gang [Gleichgewichtsstörungen]
      • Extremitäten [Fußheber-Paresen (Lähmungen)]
  • Augenärztliche Untersuchung – Beachte: Weist der Patient konjugierte Blickparesen (Unfähigkeit, beide Augen in eine bestimmte horizontale oder vertikale Richtung zu bewegen) auf, so spricht dieses gegen eine Myasthenie!
    [wg. Symptomen:
    • Diplopie (Doppelbilder)
    • ein- oder beidseitige Ptosis (Herunterhängen des Augenlids)]
    [wg. Differentialdiagnose:
    • Endokrine Orbitopathie (EO) ‒ Erkrankung, bei der es zu einem Exophthalmus (hervortreten der Augen) kommt]
    • Okuläre Myositis – Muskelentzündung am Auge; seltene Erkrankung; Symptome: schmerzhafte Diplopie (Doppelbildsehen), selten Visusverlust (plötzlicher Sehverlust)
  • HNO-ärztliche Untersuchung
    [wg. Differentialdiagnose:
    •  Sprech- und Schluckstörungen]
  • Neurologische Untersuchung ‒ inklusive Kraftprüfung, Auslösung der Reflexe etc.
    [wg. Differentialdiagnosen:
    • Botulismus – Vergiftung mit Lähmungserscheinungen, die durch das Botulinumtoxin verursacht wird
    • Bulbärparalyse – Erkrankung, bei der es zum Ausfall motorischer Hirnnervenkerne kommt
    • Funktionelle Paresen (Lähmungen)
    • Guillain-Barré-Syndrom (GBS; Synonyme: Idiopathische Polyradikuloneuritis, Landry-Guillain-Barré-Strohl-Syndrom); zwei Verlaufsformen: akute inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie bzw. chronische inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie (Erkrankung des peripheren Nervensystems); idiopathische Polyneuritis (Erkrankungen mehrerer Nerven) der spinalen Nervenwurzeln und peripheren Nerven mit aufsteigenden Lähmungen und Schmerzen; tritt meist nach Infektionen auf
    • Hirnnervenneuritis (Entzündung der Hirnnerven)
    • Lambert-Eaton-Syndrom – Autoimmunerkrankung, die zu Muskelschwäche und Reflexverlust führt
    • Motoneuronerkrankung
    • Multiple Sklerose – bei okulären (die Augen betreffende) Symptomen
    • Polyradikulitis – Entzündung mehrerer Nervenwurzeln]
  • Orthopädische Untersuchung
    [wg. Differentialdiagnosen:
    • Dermatomyositis (DM) – entzündliche Muskelerkrankung (Myositis), die ebenfalls die Haut betrifft (Dermatitis)
    • Mitochondriale Myopathie
    • Okulopharyngeale Muskeldystrophie (OPMD) – familiäre Muskelerkrankung; in der Regel benigner (gutartiger) Verlauf; Symptome: Ptosis (Herunterhängen des Augenlids), Dysphagie (Schluckstörung), Muskelschwäche
    • Polymyositis – entzündliche Systemerkrankung der Skelettmuskulatur]

In eckigen Klammern [ ] wird auf mögliche pathologische (krankhafte) körperliche Befunde hingewiesen.

Besinger-Score (Myasthenie-Score)

Zur Beurteilung des Schweregrades der Myasthenia gravis wird der Besinger-Score herangezogen. Der Test ist zudem nützlich, den Verlauf der Erkrankung zu beurteilen.

  Normal (0) Leicht (1) Mittel (2) Schwer (3)
Armhalteversuch (90°, stehend oder sitzend)  > 180 sec. 61-180 sec. 11-60 sec. 0-10 sec.
Beinhalteversuch (45°, Rückenlage)  > 45 sec.  31-45 sec. 6-30 sec. 0-5 sec.
Kopfhalteversuch (45°, liegend)  > 90 sec.  31-90 sec. 6-30 sec. 0-5 sec.
Vitalkapazität (Frauen)  > 3 l 2,1-3 l 1,2-2 l < 1,2 l
Vitalkapazität (Männer)  > 4 l 2,6-4 l 1,5-2,5 l < 1,5 l
Kauen, Schlucken  normal leicht gestört bei festen Speisen gestört nur bei Flüssigkeiten, teilweise Regurgitationen (Rückfluss von Speisebrei aus dem Magen über die Speiseröhre in den Mund) nicht möglich → Magensonde
Mimische Muskulatur (Lidschluss)  normal leichte Schwäche bei vollständigem Lidschluss Unvollständiger Lidschluss kein mimischer Ausdruck
Doppelbilder (Blick zur Seite)  > 60 sec.  11-60 sec. 1-10 sec. spontan
Ptosis (Blick nach oben)  > 60 sec.  11-60 sec. 1-10 sec. spontan

Das Testergebnis errechnet sich aus der Summe der Punkte geteilt durch die Anzahl der getesteten Kriterien. Im Verlauf wird eine Änderung von 0,5 Punkten als signifikant bewertet.

Simpson-Test

Der Simpson-Test ist ein augenheilkundliches und neurologisches Untersuchungsverfahren im Rahmen der okulären Myasthenie und wird in Verbindung mit dem sogenannten Tensilon-Test durchgeführt. 

Zum Nachweis einer okulären Myasthenie lässt man den Patienten bei gerader Kopfhaltung einige Minuten nach oben blicken. Im positiven Fall resultiert daraus ein ermüdungsbedingtes, langsames Herabsinken des Oberlides mit einer teilweisen oder vollständigen Ptosis (Herunterhängen des Augenlids), fallweise auch die Wahrnehmung von Doppelbildern. Nach der Gabe von Tensilon (Edrophoniumchlorid), einem kurzwirksamen (< 5 Minuten) Cholinesterasehemmer, wird diese Ermüdungserscheinung kurzfristig aufgehoben oder zumindest deutlich reduziert, was somit eine Lähmung anderer Ursache mit wenigen Ausnahmen (z. B. Lambert-Eaton-Rooke-Syndrom) ausschließt.

Cave: Im Rahmen des Tests besteht die Gefahr einer cholinergen Krise. Eine Reanimationsausrüstung sowie ein Antidot (Atropin) sollten in greifbarer Nähe sein.

Cogan-Zeichen ("Cogan-Lid-Twitch"-Test)

Nach kurzem Abwärts- und anschließendem Aufwärtsblick tritt bei vorliegender Myasthenia gravis eine vorübergehende Lidzuckung ein.

Eisbeutel-Test ("Ice-on-Eyes"-Test)

Bei kühlen Temperaturen lässt die Muskelschwäche bedingt durch die Myasthenie gravis nach. Bei Patienten mit Ptosis kann für zwei Minuten ein Eisbeutel auf die geschlossenen Augen gelegt werden. Bildet sich die Ptosis vollständig oder teilweise zurück, gilt der Test als positiv.

Wimpern-Zeichen (Zilienzeichen)

Das Wimpern-Zeichen gilt als positiv, wenn bei maximalem Lidschluss der Augen noch Wimpern zu sehen sind. Grund dafür ist eine Parese (Lähmung) der Lidschlussmuskulatur.

Leitlinien

  1. S2k-Leitlinie: Diagnostik und Therapie myasthener Syndrome. (AWMF-Registernummer: 030-087), November 2022 Langfassung