Multiple Sklerose (MS) – Anamnese
Die Anamnese (Krankengeschichte) stellt einen wichtigen Baustein in der Diagnostik der Multiplen Sklerose (MS) dar.
Familienanamnese
- Gibt es in Ihrer Familie Fälle von Multipler Sklerose?
- Sind in Ihrer Familie weitere entzündliche Erkrankungen des zentralen Nervensystems bekannt (z. B. Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen)?
- Leiden oder litten nahe Angehörige (Eltern, Geschwister, Großeltern) unter anderen chronischen neurologischen Erkrankungen mit möglichem genetischem Zusammenhang (z. B. Morbus Parkinson, Epilepsie (Krampfanfälle), hereditäre Ataxien)?
- Gibt es in Ihrer Familie Fälle von Optikusneuritis (Sehnerventzündungen), insbesondere im jungen Erwachsenenalter?
- Sind Ihnen genetisch bedingte Augenerkrankungen in Ihrer Familie bekannt, wie z. B. Retinitis pigmentosa?
- Bestehen in Ihrer Familie Autoimmunerkrankungen (z. B. Typ-1-Diabetes, Hashimoto-Thyreoiditis, rheumatoide Arthritis), die gehäuft vorkommen?
Sozialanamnese
- Beruf:
- Üben Sie derzeit eine berufliche Tätigkeit aus? Falls ja, empfinden Sie Ihre Arbeit als körperlich oder psychisch belastend?
- Haben sich Ihre beruflichen Möglichkeiten oder Anforderungen durch die Erkrankung verändert (z. B. reduzierte Arbeitszeit, Arbeitsplatzwechsel, Berufsaufgabe)?
- Psychosoziale Situation:
- Bestehen aktuell oder bestanden in letzter Zeit belastende Lebensumstände (z. B. familiäre Konflikte, Trennung, Pflege von Angehörigen, finanzielle Sorgen)?
- Haben Sie das Gefühl, durch familiäre, soziale oder berufliche Verpflichtungen dauerhaft überfordert zu sein?
- Haben Sie Unterstützung durch Angehörige oder Freunde im Alltag, insbesondere bei Einschränkungen durch die MS?
- Bestehen Hinweise auf soziale Isolation, z. B. Rückzug aus Kontakten, Hobbys oder sozialen Aktivitäten?
- Hatten Sie in der Vergangenheit Phasen mit starker emotionaler Belastung (z. B. Trauer, Prüfungsstress), nach denen sich neurologische Symptome verschlechtert haben?
Reiseanamnese
- Haben Sie in der Vergangenheit während oder nach Reisen eine deutliche Verschlechterung Ihrer MS-Symptome festgestellt?
- Kam es während Reisen in heiße Länder (z. B. Tropen, Mittelmeerraum im Sommer) zu einer Zunahme neurologischer Symptome wie Sehstörungen, Gangunsicherheit oder Fatigue (Erschöpfung)?
- Hatten Sie nach Aufenthalt in heißer Umgebung (z. B. Sonne, Sauna, heißes Klima, nicht klimatisierter Raum) verstärkt Symptome wie verschwommenes Sehen oder Schwächegefühl (Uhthoff-Phänomen = vorübergehende Verschlechterung neurologischer Symptome bei Erwärmung des Körpers)?
- Sind Symptome nach körperlicher Belastung bei hohen Temperaturen (z. B. Wandern in der Hitze, langes Gehen in der Sonne) aufgetreten oder haben sich verstärkt?
- Haben Sie während Reisen in der Vergangenheit fieberhafte Infekte erlitten? Falls ja, kam es in diesem Zusammenhang zu neurologischen Verschlechterungen?
- Haben Sie während oder kurz nach Reisen Impfungen erhalten (z. B. Reiseimpfungen wie Hepatitis A/B, Typhus, Gelbfieber)? Wenn ja:
- Welche Impfungen wurden durchgeführt?
- Kam es im Anschluss zu neuen oder verstärkten neurologischen Beschwerden?
- Kam es im Zusammenhang mit Flugreisen zu einer Zunahme von Fatigue, Schwindel oder anderen Beschwerden?
- Haben Sie während Reisen ungewohnt starken Stress erlebt (z. B. durch Reisestrapazen, Zeitverschiebung, unvorhergesehene Probleme)? Falls ja, hatten Sie danach eine Verschlechterung Ihrer MS-Symptome?
- Fühlen Sie sich auf Reisen grundsätzlich sicher und gut zurechtkommend, oder lösen Reisesituationen häufig Verunsicherung oder Überforderung aus?
- Vermeiden Sie bestimmte Reiseziele, Klimazonen oder Verkehrsmittel aus Angst vor einer Verschlechterung Ihrer Beschwerden?
- Planen Sie aktuell eine Reise oder einen längeren Aufenthalt außerhalb Ihrer gewohnten Umgebung? Wenn ja, haben Sie medizinische Vorkehrungen getroffen (z. B. Mitnahme von Medikamenten, barrierefreie Unterkünfte, Notfallmedikation oder ärztliche Bescheinigungen)?
Aktuelle Anamnese/Systemanamnese (somatische und psychische Beschwerden)
- Augenbeschwerden:
- Haben Sie Schmerzen bei Augenbewegungen bemerkt? Wenn ja, wie lange bestehen diese?*
- Haben Sie eine Verschlechterung der Sehstärke bemerkt? Wenn ja, beschreiben Sie Ihren Seheindruck:
- Verschwommenes Sehen bis zum vollständigen Sehverlust?*
- Gestörtes Farbempfinden (Farben erscheinen schmutzig oder blass)?*
- Verschlechtert sich Ihre Sehstärke nach körperlicher Anstrengung, wie Sport oder heißem Duschen?
- Sind diese Beschwerden bereits in der Vergangenheit aufgetreten?
- Neurologische Symptome:
- Haben Sie Probleme mit der Blasenkontrolle (Blasenschwäche, häufiges Wasserlassen)?
- Treten Gangstörungen oder Unsicherheiten beim Gehen auf?
- Hatten Sie in letzter Zeit Beinahe-Stürze oder Stürze? Haben Sie Angst zu stürzen?
- Spüren Sie Gefühlsstörungen, wie Kribbeln oder Taubheit in Armen oder Beinen?*
- Haben Sie Geschmacks- oder Geruchsstörungen bemerkt?
- Leiden Sie unter Konzentrationsschwierigkeiten oder Wortfindungsstörungen?
- Haben Sie das Gefühl, dass Ihr Gedächtnis schlechter wird?
- Fühlen Sie sich ungewöhnlich müde oder erschöpft (Fatigue)?
- Tritt die Müdigkeit auch ohne körperliche Anstrengung auf?
- Hat sich Ihre Leistungsfähigkeit im Alltag deutlich verringert?
- Haben Sie sexuelle Funktionsstörungen bemerkt (z. B. Erektionsstörungen oder verminderte Libido)?
- Haben Sie Sprechstörungen bemerkt (z. B. undeutliche Sprache)?
- Fühlen Sie sich depressiv verstimmt?
- Haben Sie das Gefühl innerer Leere, Niedergeschlagenheit oder Interessenverlust?
- Haben Sie Schmerzen? Wenn ja, wo genau treten diese auf und in welchen Situationen?
- Wie lange können Sie maximal schmerzfrei gehen (maximale Gehstrecke)?
- Schlafstörungen:
- Leiden Sie unter Ein- oder Durchschlafstörungen?
- Wachen Sie morgens nicht erholt auf?
- Haben Sie das Gefühl unruhiger Beine (Restless-Legs-Syndrom)?
- Wachen Sie durch plötzliche Bewegungen Ihrer Beine auf (Periodic Limb Movement Disorder)?
Vegetative Anamnese inkl. Ernährungsanamnese
- Geben Sie bitte uns Ihr Körpergewicht (in kg) und Ihre Körpergröße (in cm) an.
- Ernähren Sie sich ausgewogen oder essen Sie häufig Fleisch und tierische Fette?
- Wie häufig essen Sie Fisch? Welchen Fisch essen Sie gerne?
- Rauchen Sie? Wenn ja, wie viele Zigaretten, Zigarren oder Pfeifen pro Tag?
Eigenanamnese
- Haben Sie neurologische Erkrankungen, rheumatologische Erkrankungen, Infektionen oder Tumorerkrankungen in der Vergangenheit gehabt?
- Wurden in der Vergangenheit relevante operative Eingriffe durchgeführt?
- Sind Ihnen Allergien bekannt, z. B. gegen Medikamente, Lebensmittel oder Umweltstoffe?
Medikamentenanamnese
- TNF-alpha-Blocker – ein um 38 Prozent erhöhtes Risiko für entzündliche ZNS-Erkrankungen: insbesondere für demyelinisierende Erkrankungen [2]
Diagnostische Kriterien, die für eine Multiple Sklerose sprechen
- Es müssen klinisch objektivierbare neurologische Störungen vorliegen.
- Es muss überwiegend ein Befall der weißen Substanz des zentralen Nervensystems vorliegen.
- Anamnestisch oder klinisch müssen mindestens zwei Areale des zentralen Nervensystems betroffen sein.
- Der klinische Verlauf muss entweder aus zwei oder mehr Schüben unter Beteiligung verschiedener Läsionsorte bestehen, wobei die Schübe mindestens 24 Stunden andauern und nicht weniger als einen Monat Abstand haben sollen; oder einem kontinuierlichen oder schrittweisen Progress der Erkrankung über mindestens sechs Monate, wenn begleitend spezifische Laborveränderungen bestehen. Die Magnetresonanztomographie gilt als beweisend, wenn mindestens drei Monate nach einem klinisch isolierten Syndrom eine neue Läsion nachweisbar ist.
- Die neurologischen Symptome können nicht mit einer anderen Erkrankung assoziiert werden.
Die Multiple Sklerose wird gemäß den oben genannten Kriterien eingeteilt in:
- Sichere MS – alle fünf Kriterien sind erfüllt.
- Wahrscheinliche MS – alle fünf Kriterien sind erfüllt, bis auf (a) nur eine objektive neurologische Störung trotz zweier symptomatischer Episoden oder (b) nur eine symptomatische Episode trotz zweier objektiver neurologischer Befunde.
- Risikoperson – die Kriterien 1, 2 und 5 sind erfüllt; der/die Betroffene weist nur eine symptomatische Episode und eine objektive Störung auf.
* Falls diese Frage mit "Ja" beantwortet worden ist, ist ein sofortiger Arztbesuch erforderlich! (Angaben ohne Gewähr)
Unsere Empfehlung: Drucken Sie die Anamnese aus, markieren Sie alle mit „Ja“ beantworteten Fragen und nehmen Sie das Dokument mit zu Ihrem behandelnden Arzt.
Literatur
- Kyle ME et al.: Ubiquitous Aspirin A Systematic Review of Its Impact on Sensorineural Hearing Loss. Otolaryngol Head Neck Surg October 30, 2014 0194599814553930, doi: 10.1177/0194599814553930
- Xie W et al.: Risk of Inflammatory Central Nervous System Diseases After Tumor Necrosis Factor–Inhibitor Treatment for Autoimmune Diseases A Systematic Review and Meta-Analysis Author Affiliations JAMA Neurol. 2024;81(12):1284-1294. doi:10.1001/jamaneurol.2024.3524