Epilepsie – Anamnese
Die Anamnese (Krankengeschichte) stellt einen wichtigen Baustein in der Diagnostik der Epilepsie dar, da die körperliche Untersuchung und die Laborwerte meist normal sind.
Familienanamnese
- Gibt es in Ihrer Familie bekannte neurologische Erkrankungen wie Epilepsie, Migräne, Apoplexe (Schlaganfälle) oder neurodegenerative Erkrankungen (z. B. Morbus Alzheimer, Demenz, Morbus Parkinson)?
- Gibt es in Ihrer Familie genetisch bedingte Erkrankungen, die mit Epilepsie verknüpft sein können (z. B. tuberöse Sklerose, Dravet-Syndrom, Angelman-Syndrom, Lennox-Gastaut-Syndrom)?
- Bestehen bei Ihren Angehörigen Entwicklungsverzögerungen, geistige Behinderungen oder andere Erkrankungen, die mit Krampfanfällen einhergehen können?
- Haben Familienmitglieder in der Kindheit unter Fieberkrämpfen gelitten?
Sozialanamnese
- Beruf:
- Welchen Beruf üben Sie aus?
- Sind Sie in Ihrem Beruf potenziell gefährlichen Situationen ausgesetzt (z. B. Arbeiten in großer Höhe, Umgang mit Maschinen, Führungsverantwortung im Straßenverkehr, Arbeiten mit offenen Flammen oder Wasser)?
- Haben sich Ihre Arbeitsfähigkeit, Ihr Arbeitspensum oder Ihre beruflichen Aufgaben durch die Anfälle verändert?
- Umgebungsbezogene Faktoren und psychosoziale Situation:
- Haben sich Ihre Freizeitaktivitäten (z. B. Sport, Hobbys, gesellschaftliches Leben) seit Auftreten der Anfälle verändert oder wurden Einschränkungen notwendig?
- Leben Sie allein oder mit Angehörigen/Partnern zusammen, die im Notfall Hilfe leisten könnten?
- Gibt es aktuell psychosoziale Belastungen (z. B. familiäre Konflikte, beruflicher Stress, finanzielle Sorgen), die sich auf Ihr Wohlbefinden auswirken könnten?
Reiseanamnese
Eine sorgfältige Erhebung Ihrer Reisegewohnheiten kann helfen, potenzielle Auslöser für epileptische Anfälle zu identifizieren.
- Haben Sie in letzter Zeit (z. B. innerhalb der letzten Wochen oder Monate) Reisen mit Zeitverschiebung (Langstreckenflüge über mehrere Zeitzonen) unternommen? Wenn ja, wohin?
- Kam es infolge einer Reise zu Schlafmangel oder ausgeprägtem Jetlag?
- Hatten Sie im Zusammenhang mit einer Reise einen geänderten Schlafrhythmus oder Schwierigkeiten beim Ein- und Durchschlafen?
- Haben Sie während oder nach einer Reise auf Ihre regelmäßige Medikamenteneinnahme verzichten müssen oder diese vergessen?
- Kam es während oder nach einer Reise zu einem erhöhten Konsum von Alkohol oder Drogen (z. B. Partys, Clubbesuche)?
- Gab es Situationen, in denen Sie während der Reise Ihre gewohnten Mahlzeiten, Flüssigkeitszufuhr oder Routinen stark verändert haben?
- Haben Sie sich während der Reise ungewohnt körperlich angestrengt oder waren extremen Umweltbedingungen (z. B. Hitze, Höhenlage, Lärm, Lichteffekte) ausgesetzt?
- Waren Sie während oder nach einer Reise einem erhöhten Stresslevel ausgesetzt (z. B. organisatorischer Druck, Reisestrapazen, Schlafunterbrechungen)?
- Haben Sie während oder nach einer Reise Anfälle erlebt? Wenn ja, wann genau und unter welchen Umständen?
Aktuelle Anamnese/Systemanamnese (somatische und psychische Beschwerden)
- Beschreibung der Anfälle:
- Symptome vor einem Anfall:
- Hatten Sie Vorzeichen (Aura)? Wenn ja, welche (z. B. Lichtblitze, Geruchswahrnehmungen, Schwindel, Taubheit)?
- Anfallsbeginn:
- Wie beginnt ein Anfall (plötzlich, langsam, mit Vorzeichen)?
- Anfallsverlauf:
- Sind Verkrampfungen oder Muskelzuckungen aufgetreten?
- Betraf der Anfall nur eine Körperseite, eine Extremität oder den gesamten Körper?
- Gab es unwillkürliche Bewegungen (z. B. Schmatzen, Kaubewegungen, Nesteln mit den Händen)?
- Anfallsdauer:
- Wie lange dauern die Anfälle in der Regel (wenige Sekunden, Minuten)?
- Wie lange dauert es, bis Sie sich nach einem Anfall wieder normal fühlen?
- Symptome während eines Anfalls:
- Tritt eine Bewusstlosigkeit auf?*
- Können Sie sich an alles erinnern?
- Kam es zu Zungenbissen?
- Haben Sie unwillkürlich Wasser gelassen?
- Haben Sie Halluzinationen, Schweißausbrüche, Gänsehaut oder Taubheitsgefühle bemerkt?
- Waren Sprach-, kognitive Störungen (z. B. Gedächtnis-, Konzentrations-, Wahrnehmungsstörungen) oder affektive Störungen (z. B.Depression, Angststörung) während oder nach dem Anfall vorhanden?
- Häufigkeit und Auslöser:
- Wie oft treten die Anfälle auf?
- Gibt es auslösende Faktoren (z. B. Schlafmangel, Alkohol, Stress, Lichtblitze)?
- Symptome vor einem Anfall:
- Gab es Fieberkrämpfe im Kindesalter?
Vegetative Anamnese inkl. Ernährungsanamnese
- Haben Sie in der letzten Zeit auf eine ausgewogene Ernährung geachtet?
- Rauchen Sie? Wenn ja, wie viele Zigaretten, E-Zigaretten, Zigarren oder Pfeifen pro Tag?
- Trinken Sie Alkohol? Wenn ja, welche Getränke und wie viele Gläser pro Tag?
- Nehmen Sie Drogen? Wenn ja, welche Drogen (z. B. Amphetamine, Cannabis, Kokain) und wie häufig?
Eigenanamnese inkl. Medikamentenanamnese
- Vorerkrankungen:
- Bestehen neurologische oder psychiatrische Vorerkrankungen (z. B. Schlaganfälle, Migräne, Depressionen, Angststörungen)?
- Haben Sie bereits andere chronische Erkrankungen (z. B. Diabetes mellitus, Herz-Kreislauf-Erkrankungen), die Ihre Beschwerden beeinflussen könnten?
- Verletzungen und Operationen:
- Hatten Sie Kopfverletzungen oder ein Schädel-Hirn-Trauma?
- Gab es in der Vergangenheit Operationen, die mit Ihren Beschwerden zusammenhängen könnten?
- Medikamentenanamnese:
- Nehmen Sie aktuell Medikamente (z. B. Antiepileptika)?
- Haben Sie in der Vergangenheit Medikamente eingenommen, die bekanntermaßen Krampfanfälle oder neurologische Nebenwirkungen auslösen können (z. B. Benzodiazepine, Psychostimulanzien)
- Haben Sie jemals Schwierigkeiten, Ihre Medikamente regelmäßig einzunehmen (Non-Compliance)?
Medikamentenanamnese
- Analgetika (Schmerzmittel)
- Antibiotika
- Direkte orale Antikoagulantien, kurz DOAK bzw. NOAK (neue orale Antikoagulantien) – Patienten mit Vorhofflimmern haben unter DOAKs ein höheres Risiko für Epilepsie bzw. Krampfanfälle als mit Phenprocoumon (Vitamin-K-Antagonisten (VKA): Marcumar, Falithrom, weitere Generika) [2].
Hinweis: Die Autoren weisen darauf hin, dass unter Phenprocoumon möglicherweise der Schutz vor stummen Hirninfarkten besser ist als unter DOAK. - Flumazenil – Gegenmittel bei Beruhigungsmittelvergiftung – kann bei Beruhigungsmittelabhängigkeit zu Krampfanfällen führen
- Immunsuppressiva – Medikamente, die die körpereigene Abwehr drosseln
- Lokalanästhetika – Mittel zur örtlichen Betäubung
- Methylphenidat – Risiko eines epileptischen Anfalls in den ersten 30 Tagen der Methylphenidattherapie erhöht [1]
- Psychopharmaka – Medikamente, die bei psychischen Erkrankungen eingesetzt werden
- Theophyllin – Medikament zur Behandlung von Lungenerkrankungen
- Virostatika – Medikamente zur Bekämpfung von Infektionen durch Viren
Umweltanamnese
- Wurden Sie in der Vergangenheit toxischen Substanzen wie Schwermetallen, Pestiziden oder Lösungsmitteln ausgesetzt?
- Gab es Unfälle oder Ereignisse, bei denen Sie einem Sauerstoffmangel (z. B. bei Unfällen oder Narkosezwischenfällen) ausgesetzt waren?
- Leben oder arbeiten Sie in einer Umgebung mit extremem Lärm, starker Luftverschmutzung oder chemischen Belastungen?
- Achtung: Stroboskoplicht in Klubs → Patienten mit einer bekannten lichtempfindlichen Epilepsie sollten solche Veranstaltungen meiden bzw. Vorsichtsmaßnahmen ergreifen
* Falls diese Frage mit „Ja“ beantwortet worden ist, ist ein sofortiger Arztbesuch erforderlich! (Angaben ohne Gewähr)
Unsere Empfehlung: Drucken Sie die Anamnese aus, markieren Sie alle mit „Ja“ beantworteten Fragen und nehmen Sie das Dokument mit zu Ihrem behandelnden Arzt.
Literatur
- Man KKC et al.: Association between MPH treatment and risk of seizure. Lancet Child Adolesc Health 2020;4:435-43 doi: 10.1016/S2352-4642(20)30100-0.
- Platzbecker K et al.: In atrial fibrillation epilepsy risk differs between oral anticoagulants: active comparator, nested case-control study. Europace 2023; https://doi.org/10.1093/europace/euad087