Aktigraphie
Die Aktigraphie (Bewegungsmessung mit tragbarem Gerät; auch: Aktimetrie, Aktigrafie) ist ein nicht-invasives (nicht eingreifendes) diagnostisches Verfahren zur objektiven Erfassung von Ruhe-Aktivitäts-Zyklen. Sie findet insbesondere Anwendung in der Schlafmedizin, Chronobiologie (Untersuchung biologischer Rhythmen) und in der psychiatrischen Diagnostik, etwa zur Beurteilung von Insomnien (Schlaflosigkeit), zirkadianen Rhythmusstörungen (Störungen des inneren Tag-Nacht-Rhythmus) oder depressiven Erkrankungen mit gestörtem Tag-Nacht-Rhythmus. Die Messung erfolgt über ein tragbares Gerät, das über einen Zeitraum von mehreren Tagen bis Wochen kontinuierlich Bewegungsaktivität und Lichtbelastung registriert. Ziel ist die Erhebung eines physiologischen Aktivitätsprofils zur differenzialdiagnostischen Abklärung von Schlafstörungen und tageszeitabhängigen Funktionsdefiziten [1-3].
Beurteilbare Parameter
- Gesamte körperliche Aktivität (z. B. Bewegungsamplitude, Frequenz)
- Schlafdauer und Schlafeffizienz (Anteil der Schlafzeit bezogen auf die gesamte Bettzeit)
- Einschlaflatenz (Zeit bis zum Einschlafen)
- Wachphasen während der Schlafperiode (WASO – Wachzeit nach Einschlafen)
- Rhythmusstabilität und Phasenlage der Aktivität
- Tageslicht-Exposition (bei integriertem Lichtsensor)
Indikationen (Anwendungsgebiete)
- Diagnostik von Insomnien (Ein- und Durchschlafstörungen)
- Erkennung zirkadianer Schlaf-Wach-Rhythmusstörungen (z. B. verzögertes Schlafphasensyndrom)
- Objektivierung von Tagesschläfrigkeit (übermäßige Müdigkeit am Tag)
- Verlaufskontrolle bei verhaltenstherapeutischer oder pharmakologischer Behandlung von Schlafstörungen
- Abgrenzung organischer vs. funktioneller Schlafstörungen
- Diagnostik bei psychiatrischen Erkrankungen mit Schlaf-Wach-Dysregulation (z. B. Depression, bipolare Störung) [4]
- Untersuchung der Aktivitätsstruktur bei neurodegenerativen Erkrankungen (z. B. Parkinson-Krankheit, Demenz)
Kontraindikationen (Gegenanzeigen)
- Fehlende Adhärenz (fehlende Mitwirkung) bzw. Nichttragen des Geräts
- Schwere motorische Störungen (z. B. Tremor (Zittern), Hyperkinesien (übermäßige Bewegungen)), die zu Artefakten führen können
- Fehlen einer aussagekräftigen Aufzeichnungsdauer (< 5 Tage)
Das Verfahren
Technische Grundlagen
Die Aktigraphie basiert auf der kontinuierlichen Erfassung von Bewegungen mittels eines Miniatursensors (kleiner Bewegungssensor; Beschleunigungssensor, typischerweise mit 30-Sekunden-Epochenerfassung). Das Gerät wird meist am dominanten Handgelenk getragen, seltener am Fußgelenk oder an der Hüfte. Optional kann ein Umgebungslichtsensor integriert sein.
Durchführung
- Tragezeitraum in der Regel 7–14 Tage
- Ergänzende Führung eines Schlaftagebuchs (subjektives Schlafprotokoll) zur Validierung subjektiver Angaben
- Datenauswertung durch Spezialsoftware mit Bewegungs- und Lichtprofil
- Klassifikation von Schlaf- und Wachphasen anhand vordefinierter Schwellenwerte
- Grafische Ausgabe als Aktogramm (Tageslinien mit Aktivitätsprofil)
Störfaktoren
- Nichttragen oder Ablegen des Geräts (z. B. beim Duschen oder Sport)
- Externe Bewegungsquellen (z. B. Transport, Zittern)
- Fehlende oder unvollständige Tagebuchführung
- Medikation mit sedierenden (beruhigenden) oder stimulierenden (anregenden) Wirkstoffen
Interpretation der Ergebnisse
- Normales Aktivitätsmuster: Regelmäßiger zirkadianer Rhythmus mit klaren Ruhe- und Aktivitätsphasen
- Verzögertes Schlafphasensyndrom: Verschobene Einschlaf- und Aufwachzeiten bei erhaltener Gesamtschlafdauer
- Fragmentiertes Schlafprofil: Geringe Schlafeffizienz, häufige nächtliche Wachphasen
- Hypoaktivität: Hinweise auf Depression oder Hypokinese (verminderte Beweglichkeit) [4]
- Unregelmäßige Tag-Nacht-Struktur: Z. B. bei Demenz, chronobiologischen Syndromen
Weiterführende Diagnostik
- Polysomnographie (umfangreiche Schlafuntersuchung) bei pathologischen Befunden oder Unklarheiten
- Psychometrische Testverfahren (standardisierte Fragebögen) zur Differenzierung komorbider Störungen
- Melatonin- oder Cortisolprofil (Hormonverläufe) zur Rhythmusanalyse
- EEG (Elektroenzephalographie; Hirnstrommessung) zur Abgrenzung neurologischer Ursachen
Postdiagnostische Maßnahmen
- Verhaltensbasierte Schlafrestriktion oder Stimulus-Kontroll-Therapie (Verhaltenstherapie zur Förderung des Schlafs)
- Lichttherapie bei zirkadianen Störungen
- Anpassung von Schlafhygiene und Tagesstruktur
- Pharmakotherapie (medikamentöse Behandlung) nur bei klarer Indikation
Mögliche Komplikationen
- Keine biologischen Risiken, da das Verfahren rein passiv ist
- Datenverlust bei defekten Geräten oder mangelhafter Tragecompliance (fehlender Mitarbeit)
Literatur
- Patterson MR, Nunes AASN, Gerstel D, Pilkar R, Guthrie T, Neishabouri A, Guo CC. 40 years of actigraphy in sleep medicine and current state of the art algorithms. NPJ Digit Med. 2023;6:51. https://doi.org/10.1038/s41746-023-00802-1
- Gao C, Haghayegh S, Wagner M, et al. Approaches for Assessing Circadian Rest-Activity Patterns Using Actigraphy in Cohort and Population-Based Studies. Curr Sleep Med Rep. 2023;9:247–56. https://doi.org/10.1007/s40675-023-00267-4
- Smith MT et al.: Use of Actigraphy for the Evaluation of Sleep Disorders and Circadian Rhythm Sleep–Wake Disorders: AASM Clinical Practice Guideline. J Clin Sleep Med. 2018 https://doi.org/10.5664/jcsm.7230
- Hendricks JM et al.: Actigraphy-based assessment of circadian rhythmicity and sleep in individuals with Usher syndrome type 2a. J Sleep Res. 2024; e14456. https://doi.org/10.1111/jsr.14456