Neurogene Blase – Ursachen
Pathogenese (Krankheitsentstehung)
Eine neurogene Blasenfunktionsstörung beruht auf:
- Beeinträchtigung des koordinierten Zusammenspieles afferenter sensorischer und efferent motorischer Nervenimpulse und
- korrekte Verarbeitung der Informationen im zentralen Nervensystem (ZNS)
Im Sinne der Pathogenese kann man die folgenden Formen der neurogenen Dysfunktion der Harnblase unterscheiden (Klassifikation der ICS – International Continence Society)
Detrusoraktivität (Harnblasenmuskel) | Normal | Hyperreflexie | Hyporeflexie |
Sphincter externus (äußerer Schließmuskel) | Normal | Hyperreflexie | Hyporeflexie |
Sensibilität | Normal | Hypersensitivität | Hyposensitivität |
Daraus resultiert eine Vielzahl von Kombinationen von Funktionsstörungen der Harnblase. Nachfolgend, die sich daraus ergebenden typischen Konstellationen:
- Detrusorüberaktivität (engl. detrusor overactivity; Folge einer Schädigung des Nervensystems durch Erkrankungen, Unfälle oder angeborene Fehlbildungen; z. B. wg. zentraler degenerativer Erkrankungen wie Morbus Parkinson, multiple Sklerose; dementielle Syndrome)
- Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie (DSD; Blasenfunktionsstörung, die durch das gestörte Zusammenwirken der bei der Blasenentleerung beteiligten anatomischen Strukturen gekennzeichnet ist; klassischerweise wg. einer Rückenmarksverletzung oder auch bei Patienten mit Multisystematrophie, Multiple Sklerose (MS))
- Hypokontraktiler Detrusor (z. B. wg. Polyneuropathie (20-40 %), Bandscheibenprolaps (5-18 %), Multiple Sklerose (MS; bis zu 20 %); iatrogen nach Operation (vor allem nach Hysterektomie/Gebärmutterentfernung und Rektumresektion/operative Teilentfernung des Rektums (Mastdarms) unter Belassung des Sphinkterapparates))
- Hypoaktiver Sphinkter (Verlust der reflektorischen Kontraktion des Sphinkters bei Anstieg des abdominellen Druckes; z. B. wg. peripherer Läsionen)
Ätiologie (Ursachen)
Biographische Ursachen
- Genetische Belastung
- Genetische Erkrankungen
- Spina bifida ‒ Spaltbildung in der Wirbelsäule, die während der Embroynalentwicklung auftritt (sporadisches, selten auch familiäres Auftreten)
- Genetische Erkrankungen
- Lebensalter – zunehmendes Alter: bei Frauen signifikant ab 44 Jahren und bei Männern signifikant ab 64 Jahren
Krankheitsbedingte Ursachen [EAU Guidelines]
Angeborene Fehlbildungen, Deformitäten und Chromosomenanomalien (Q00-Q99)
- Fehlbildungen wie:
- Spina bifida (s. u. "Biographische Ursachen") → Inkontinenz (Blasenschwäche) bei > 50 %; urodynamisch auffällige Befunde bei 96 %
- Spinale Dysraphien, offen – Myelomeningozele, geschlossen (okkult) [Ursachen einer neurogenen Harnblasenfunktionsstörung bei Kindern: Prävalenz (Krankheitshäufigkeit): 85 %] [1]
- Tethered-Cord-Syndrom – Fehlbildung, bei der die Ausläufer des Rückenmarks, das Filum terminale, oft durch einen fibrösen Strang mit der Rückenmarkshülle verwachsen, sodass der Conus medullaris ungewöhnlich tief verlagert wird (der sog. Konustiefstand); infolgedessen können neurologische Störungen auftreten; sporadisches Auftreten
Endokrine, Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten (E00-E90)
- Diabetes mellitus mit Polyneuropathie (Erkrankungen, bei denen mehrere oder viele periphere Nerven geschädigt sind)
- Funikuläre Myelose (Synonym: funikuläre Spinalerkrankung) – Entmarkungskrankheit (Degeneration des Hinterstranges, des Seitenstranges und eine Polyneuropathie), die durch einen Vitamin-B12-Mangel ausgelöst wird; Symptomatik: Ausfälle der Motorik und Sensibilität, die sich bis zu einer Querschnittslähmung verschlimmern können; Enzephalopathie (Gehirnerkrankung) unterschiedlichen Ausmaßes
Infektiöse und parasitäre Krankheiten (A00-B99)
- Tabes dorsalis – Krankheitsbild, das sich im Quartärstadium der Syphilis (Lues) entwickeln kann und durch eine Demyelinisierung der Hinterstränge gekennzeichnet ist (z. B. Gangstörungen, Sehstörungen bis hin zur Erblindung)
Muskel-Skelett-System und Bindegewebe (M00-M99)
- Bandscheibenprolaps (BSP; Bandscheibenvorfall) → hypokontraktiler Detrusor
Neubildungen – Tumorerkrankungen (C00-D48)
- Tumoren im Bereich des Zentralnervensystems/Rückenmarks → Inkontinenz vor allem bei frontalen Läsionen
Psyche – Nervensystem (F00-F99; G00-G99)
- Apoplex (Schlaganfall) und andere zerebrovaskuläre Ereignisse (20-50 %) → Detrusorüberaktivität ( 71-80 % spontane Befundnormalisierung)
- Arteria spinalis anterior-Syndrom (Synonym: Spinalis-anterior Syndrom) – neurologische Störungen, die durch Durchblutungsstörungen der Arteria spinalis anterior bedingt sind
- Dementielle Syndrome (am häufigsten in Form der Alzheimer-Krankheit (Demenz vom Alzheimer-Typ, DAT)) → Detrusorüberaktivität
- Diabetische Polyneuropathie → Drangbeschwerden, Dranginkontinenz, im weiteren Verlauf hyposensible Blase, hypo-/akontraktile Blase
- Infantile Zerebralsklerose – neurologische Störung, deren ursächliche Schädigung des zentralen Nervensystems vor, während oder unmittelbar nach der Geburt auftritt
- Funikuläre Myelose (Synonym: funikuläre Spinalerkrankung) – Entmarkungskrankheit (Degeneration des Hinterstranges, des Seitenstranges und eine Polyneuropathie/Erkrankungen des peripheren Nervensystems, die mehrere Nerven betreffen), die durch einen Vitamin-B12-Mangel ausgelöst wird; Symptomatik: Ausfälle der Motorik und Sensibilität, die sich bis zu einer Querschnittlähmung verschlimmern können; Enzephalopathie (krankhafte Zustände des Gehirns) unterschiedlichen Ausmaßes
- Hydrocephalus ("Wasserkopf") → Urininkontinenz
- Morbus Alzheimer
- Morbus Parkinson (25-70 % der Patienten, in Abhängigkeit vom Krankheitsstadium) → Detrusorüberaktivität
- Multiple Sklerose (MS) (50-90 % nach längerem Krankheitsverlauf) → 10 % haben bei Erkrankungsbeginn Miktionsstörungen (Störungen der Blasenentleerung), Detrusorüberaktivität (86 % im weiteren Verlauf) und/oder Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie oder hypokontraktiler Detrusor
- Multisystematrophie (-50 %) → Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie
- Myelitis, nicht näher bezeichnet
- Periphere Läsionen → hypoaktiver Sphinkter
- Periphere Neuropathien (z. B. nach Alkoholabusus) → Drangbeschwerden, Dranginkontinenz, im weiteren Verlauf hyposensible Blase, hypo-/akontraktile Blase
- Polyneuropathie (Oberbegriff für Erkrankungen des peripheren Nervensystems, die mit chronischen Störungen der peripheren Nerven oder Anteilen von Nerven einhergehen) → hypokontraktiler Detrusor
- Syringomyelie – neurologische Erkrankung, die meist im mittleren Lebensalter beginnt und zu Höhlenbildung in der grauen Substanz des Rückenmarks führt
- Zerebralsklerose → Detrusorüberaktivität
Verletzungen, Vergiftungen und andere Folgen äußerer Ursachen (S00-T98)
- Rückenmarksschädigung, nicht näher bezeichnet → Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie; Detrusorüberaktivität; hypokontraktiler Detrusor
- Läsionen im Bereich der Lendenwirbelsäule (degenerativ, Bandscheibenvorfälle, Lumbalkanalstenosen) → Miktionsbeschwerden bei 26 %, hypo-/ akontraktiler Detrusor, Blasenempfindungsstörungen, intrinsische Sphinkterinsuffizienz, Detrusorüberaktivität, Belastungsinkontinenz
- Iatrogene Läsionen (Verletzungen die durch einen ärztlichen Eingriff entstanden sind) der Nerven im kleinen Becken → Miktionsstörungen mit Harnverhalt in bis zu 50 % der Fälle
- Schädel-Hirn-Traumata (SHT), nicht näher bezeichnet → 60 % urodynamische auffällige Befunde; 44 % Speicherstörungen; 38 % Miktionbeschwerden
Weitere Ursachen
- Operationen an der Wirbelsäule, im kleinen Becken (Rektumresektion/Mastdarmentfernung und Hysterektomie/Gebärmutterentfernung) → hypokontraktiler Detrusor
- Sportunfälle
- Strahlentherapie (Radiotherapie, Radiatio)
Literatur
- Adzick NS et al.: A randomized trial of prenatal versus postnatal repair of myelomeningocele. N Engl J Med 2011;364(11):993-1004
Leitlinien
- EAU Guidelines: Neuro-Urology. https://uroweb.org/wp-content/uploads/EAU-Guidelines-on-Neuro-Urology-2020.pdf