Visuell evozierte Potenziale (VEP)

Die Ableitung visuell evozierter Potenziale (VEP) dient der Diagnostik von pathologischen Veränderungen sowohl in der Ophthalmologie (Augenheilkunde) als auch in der Neurologie (Heilkunde des Nervensystems). Es handelt sich um elektrische Spannungsänderungen, die durch ein Elektroenzephalogramm (EEG) über der primären Sehrinde (Gebiet in der Hirnrinde, das für die Verarbeitung der Sehsinneseindrücke zuständig ist) abgeleitet werden, während der Patient visuellen Reizen ausgesetzt ist. Die Untersuchung erlaubt eine Beurteilung des N. opticus (Sehnerv), der Sehbahn sowie der Sehrinde. Neben den visuell evozierten Potenzialen gibt es folgende verwandte Untersuchungen:

  • SEP – Somatosensibel evozierte Potenziale: Kleine elektrische Signale reizen die peripheren sensiblen Nerven (an den Extremitäten), sodass die Reaktion der sensiblen Nervenbahnen über den Gyrus postcentralis der kontralateralen Hemisphäre (Gebiet im Gehirn, das für die Verarbeitung der Sensibilität verantwortlich ist) abgeleitet werden kann.
  • AEP – Akustisch evozierte Potenziale: Sich ständig wiederholende Klicklaute reizen die Hörbahn des Patienten, sodass die Reaktion der sensiblen Nervenbahnen über dem Vertex (Scheitelfläche des Schädels) und dem Mastoid (Schläfenbein) abgeleitet werden kann.

Die Indikationen (Anwendungsgebiete) für die Durchführung einer Ableitung visuell evozierter Potenziale sind vielfältig: Jede Störung der Sehbahn angefangen bei der Retina (Netzhaut) bis zum primären visuellen Kortex (primäre Sehrinde) sind erfassbar.

Indikationen (Anwendungsgebiete)

  • Anton-Syndrom (kortikale Blindheit) – visuelle Anosognosie (Verkennung) der eigenen (kortikalen) Blindheit nach Schädigung der Sehbahn beider Gehirnhälften
  • Autosomal-dominante Optikusatrophie – erbliche Atrophie (Schwund) des Sehnervs
  • Glaukom – Grüner Star
  • Endokrine Orbitopathie (EO) – Erkrankung der Augenhöhle (Orbita); sie zählt zu den organspezifischen Autoimmunerkrankungen, die meist bei einer Schilddrüsenfehlfunktion auftritt und durch einen sogenannten Exophthalmus (hervortreten der Augen) gekennzeichnet ist
  • Ischämische Optikusneuropathie – Schädigung der Nervenbahn des Sehnervs durch verminderte Blutversorgung
  • Kompression bzw. Verletzung der Sehbahn durch Tumoren
  • Lebersche Optikusatrophie – erbliche Atrophie (Schwund) des Sehnervs, die nach dem Erstbeschreiber Dr. Theodor Leber benannt ist
  • Makulopathien – Erkrankungen der Makula (gelber Fleck – Ort des schärfsten Sehens) wie z. B. altersabhängige Makuladegeneration (AMD)
  • Multiple Sklerose (MS) – chronisch-entzündliche Entmarkungserkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS)
  • Neuritis nervi optici (Optikusneuritis; Sehnervenentzündung)
  • Neurolues (Synonym: Neurosyphilis) – Reihe von charakteristischen psychiatrischen oder neurologischen Symptomen, die bei unbehandelter oder nicht ausgeheilter Syphilis-Erkrankung mit einer Latenzzeit von Jahren bis Jahrzehnten auftreten können
  • Optikustrauma (Sehnervenverletzung)
  • Retinale Ischämie – Mangeldurchblutung der Netzhaut
  • Schädel-Hirn-Trauma (SHT)
  • Störungen der zentralen Sehbahn durch Tumoren oder Gefäßprobleme
  • Uveitis – Entzündung der mittleren Augenhaut, die aus der Aderhaut (Choroidea), dem Strahlenkörper (Corpus ciliare) und der Regenbogenhaut (Iris) besteht
  • Veränderungen der Papillen (Austrittsort des Sehnervs aus dem Augapfel)
  • Toxische Schädigung der Nervenbahnen durch Tabak, Alkohol oder Ethambutol (Tuberkulostatikum)

Das Verfahren

Der Untersuchungsablauf ist wie folgt: Der Patient wird einem visuellen Reiz ausgesetzt, der entweder aus einem Schachbrettmuster mit schnell wechselnder Kontrastumkehr oder alternierenden Lichtblitzen besteht. Währenddessen werden am Hinterhauptspol die VEPs über eine Elektrode wie bei der Elektroenzephalographie (EEG) aufgezeichnet. Da sich zu jeder Zeit spontane neuronale Aktivität als Rauschen im EEG darstellt, müssen die visuell evozierten Potenziale mehrmals hundertfach gemittelt werden, damit sie als Potenzialänderung erkennbar sind. Deswegen sind sowohl die Reizmuster als auch die definierte Reizstärke bzw. Reizgröße konstant. Dieses Verfahren wird auch als Averaging bezeichnet.

Die EEG-Kurve zeigt im Normalfall eine charakteristische Potentialänderung, die eine diagnostische Beurteilung zulässt. Positive und negative Ausschläge treten nach einer definierten Latenzzeit auf, sodass Veränderungen Hinweise auf ein pathologisches Geschehen darstellen. Zum Beispiel beträgt die Latenz der ersten ausgeprägten positiven Potenzialänderung, die im EEG sichtbar wird, in der Regel ca. 90-120 ms und wird als P100-Komponente bezeichnet. Dabei handelt es sich um die Zeit von der Erregung der Photorezeptoren auf der Netzhaut bis zur Erregungsankunft in der Sehrinde. Bei bestimmten Erkrankungen wie z. B. bei Multipler Sklerose (MS – chronisch-entzündliche Entmarkungserkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS)) ist die P100-Latenz verlängert.

Die Auswertung visuell evozierter Potenziale ermöglicht eine aufschlussreiche Diagnostik von diversen Störungen und Erkrankungen der kompletten Sehbahn und stellt somit einen wertvollen Bestandteil der neurologischen und ophthalmologischen Diagnostik dar. Vor allem bei Verdacht auf Multiple Sklerose ist die Untersuchung auf dem Weg zur Diagnose wichtig.

Literatur

  1. Milnik V: Elektrophysiologie in der Praxis: Neurographie, evozierte Potenziale und EEG. Elsevier, Urban & Fischer Verlag 2008
  2. Bischoff C, Klingelhöfer J: Klinikleitfaden Neurologie, Psychiatrie. Elsevier, Urban & Fischer Verlag 2003

     
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