Neurogene Blase – Einleitung

Die neurogene Blase bezeichnet eine Funktionsstörung der Harnblase aufgrund einer Störung im Nervensystem.

Synonyme und ICD-10: Akontraktile Blase; Akontraktilität des Blasenmuskels ohne neurologisches Substrat; Atonische neuromuskuläre Harnblasendysfunktion; Autonome neuromuskuläre Harnblasendysfunktion; Blasenatonie; Blasenfunktionsstörung; Blasenlähmung; Blasenschwäche; Blasenwandschwäche; Detrusoratonie der Harnblase; Detrusordekompensation der Harnblase; Detrusorhyperreflexie der Harnblase; Detrusorhypoaktivität der Harnblase; Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie; Funktionelle Blasenentleerungsstörung; Funktionelle Harnabflussstörung; Harnblasenatonie; Harnblasendysfunktion; Harnblasenfunktionsstörung; Harnblasenfunktionsstörung mit Detrusorinstabilität bei autonomer Neuropathie; Harnblasenhypotonie; Harnblaseninstabilität; Harnblasenlähmung; Harnblasenschwäche; Harnblasensphinkterinkontinenz; Harnblasensphinktermyasthenie; Harnblasensphinkterrelaxation; Harnblasensphinkterschwäche; Harnblasenträgheit; Harnblasenwandschwäche; Hypersensitive Blase; Hypertone Harnblase; Hypokontraktilität des Blasenmuskels ohne neurologisches Substrat; Hypotone Blase; Instabile Blase; Instabile Blase ohne neurologisches Substrat; Lazy bladder; Neurogene autonome Harnblase; Neurogene Blase; Neurogene Blase mit ungehemmter Entleerung; Neurogene Blasenatonie; Neurogene Blasenentleerungsstörung; Neurogene Blasenstörung; Neurogene Harnblase; Neurogene Harnblase bei autonomer Neuropathie; Neurogene Harnblase bei Frontalhirnsyndrom; Neurogene Harnblase nach operativer Deafferenzierung; Neurogene Harnblasenatrophie; Neurogene Harnblasendysfunktion; Neurogene Harnblasenentleerungsstörung; Neurogene Harnblaseninkontinenz; Neurogene Harninkontinenz; Neurogene Miktionsstörung; Neurogene motorisch atonische Harnblase; Neurogene nichtreflektorische Blase; Neurogene nichtreflektorische Harnblase; Neurogene Paralyse des Harnblasensphinkters; Neurogene Reflexblase; Neurogene Restharnretention; Neurogene schlaffe Blase; Neurogene sensorisch atonische Harnblase; Neurohormonale Reizblase; Neuromuskuläre Blasendysfunktion; Neuromuskuläre Blasenentleerungsstörung; Neuromuskuläre Blasenstörung; Nichtreflektorische neuromuskuläre Harnblasendysfunktion; Organisch fixierte neuromuskuläre Low-compliance-Blase; Paralyse des Harnblasensphinkters; Parese des Harnblasensphinkters; Paresis vesicae; Schlaffe neuromuskuläre Harnblasendysfunktion; Sphincter-vesicae-Myasthenie; Sphincter-vesicae-Relaxation; Sphincter-vesicae-Schwäche; Ungehemmte neuromuskuläre Harnblasendysfunktion; Urgency-Blase; Vesikale Paralyse; Vesikale Relaxation; Vesikalparese a.n.k.; Zerebral bedingte Detrusorinstabilität; Zerebral enthemmte Harnblase; Zystoplegie; ICD-10-GM N31.-: Neuromuskuläre Dysfunktion der Harnblase, anderenorts nicht klassifiziert

Formen der neuromuskuläre Dysfunktion der Harnblase

Unter "neuromuskuläre Dysfunktion der Harnblase, anderenorts nicht klassifiziert" werden die folgenden Erkrankungen zusammengefasst:

  • Ungehemmte neurogene Blasenentleerung, anderenorts nicht klassifiziert (N31.0): Zerebral bedingte Detrusorinstabilität. Es tritt ein nahezu normales Miktionsmuster auf, wobei nur auffällt, dass bei einsetzendem Harndrang eine nicht unterdrückbare, reflektorische Detrusorkontraktion bei gleichzeitiger Sphinkterrelaxation auftritt und eine Blasenentleerung einsetzt.
  • Neurogene Reflexblase, andernorts nicht klassifiziert (N31.1): Harnblasenfunktionsstörung mit Detrusorinstabilität bei autonomer Neuropathie.
  • Schlaffe neurogene Harnblase, andernorts nicht klassifiziert (N31.2): Neurogene Harnblase mit verminderter Muskelkontraktion.
  • Sonstige neuromuskuläre Dysfunktion der Harnblase (N31.8): Neuromuskuläre Low-compliance-Blase, Lazy bladder (Hinman-Syndrom bzw. „nicht-neurogene neurogene Blase“, NNNB), instabile Blase ohne neurologisches Substrat.
  • Neuromuskuläre Dysfunktion der Harnblase, nicht näher bezeichnet (N31.9)

Epidemiologie

Häufigkeitsgipfel: Die Häufigkeit der neurogenen Blase steigt mit zunehmendem Alter an: bei Frauen signifikant ab 44 Jahren und bei Männern signifikant ab 64 Jahren.

Die Prävalenz (Krankheitshäufigkeit) der neurogenen Blase erhöht sich mit steigendem Alter: bei Frauen von 2 % auf 19 % und bei Männern von 0,3 % auf 9 %. 

Verlauf und Prognose

Verlauf

Eine neurogene Blase führt häufig zu verschiedenen pathophysiologischen Veränderungen und klinischen Symptomen, die detailliert betrachtet werden müssen:

Restharnbildung:

  • Pathophysiologie: Aufgrund der gestörten Innervation kommt es zu einer unvollständigen Entleerung der Harnblase, wodurch ein Restharnvolumen zurückbleibt.
  • Klinische Bedeutung: Restharnmengen ab 50-100 ml werden als klinisch relevant angesehen, da sie das Risiko für Infektionen und andere Komplikationen erhöhen.

Infektionen der Harnwege:

  • Zystitis (Blasenentzündung): Die Restharnbildung begünstigt die Ansammlung von Bakterien in der Harnblase, was zu wiederkehrenden Harnwegsinfektionen führen kann. Diese Infektionen manifestieren sich häufig mit Symptomen wie Dysurie (unangenehme bzw. schmerzhafte Harnentleerung), Pollakisurie (häufiges Wasserlassen kleine Mengen) und suprapubischen Schmerzen (Schmerzen oberhalb des Schambeins).
  • Pyelonephritis (Nierenbeckenentzündung): Eine unbehandelte Zystitis kann aufsteigen und zu einer Nierenbeckenentzündung führen. Der vesikoureterale Reflux (Rückfluss von Harn aus der Blase in die Nieren) spielt hierbei eine zentrale Rolle und kann die Infektion bis in die Nieren ausbreiten.

Nierenfunktionsstörungen:

  • Vesikoureteraler Reflux: Durch den Rückfluss von Harn kann es zu wiederholten Niereninfektionen und chronischen Veränderungen im Nierengewebe kommen, was letztlich die Nierenfunktion beeinträchtigen kann.
  • Hydronephrose: Eine langfristige Erhöhung des Blasendrucks aufgrund von Restharn kann zu einer Hydronephrose führen, bei der es zu einer Dilatation (Ausweitung) des Nierenbeckens und der Harnleiter kommt.

Blasensteine:

  • Pathogenese: Chronischer Restharn und Harnwegsinfektionen können die Bildung von Blasensteinen fördern. Diese können zu zusätzlichen Symptomen wie Schmerzen und Hämaturie führen und die Entleerung weiter beeinträchtigen.

Scham und soziale Isolation:

  • Psychosoziale Auswirkungen: Die Inkontinenz und die damit verbundene Unsicherheit führen häufig zu sozialer Isolation und Schamgefühlen, was die Lebensqualität erheblich beeinträchtigen kann. Dies kann zusätzlich zu psychischen Belastungen und Depressionen führen.

Langzeitkomplikationen:

  • Chronische Niereninsuffizienz: Wiederkehrende Infektionen und langfristige Druckerhöhungen in den Harnwegen können zu einer chronischen Niereninsuffizienz (Nierenschwäche) führen.
  • Urosepsis: In schweren Fällen kann eine unbehandelte Harnwegsinfektion zu einer Urosepsis führen, einer lebensbedrohlichen Infektion des Blutkreislaufs.

Prognose

Die Prognose der neurogenen Blase hängt stark von der zugrunde liegenden Ursache, der Schwere der neurologischen Beeinträchtigung und der Wirksamkeit der eingeleiteten Behandlungsmaßnahmen ab:

Früherkennung und Behandlung:

  • Entscheidende Faktoren: Eine frühzeitige Diagnosestellung und adäquate Therapie sind entscheidend für eine gute Prognose. Die Behandlung umfasst sowohl medikamentöse Ansätze als auch physiotherapeutische und chirurgische Maßnahmen, je nach Schweregrad der Symptome und der zugrunde liegenden Ursache.
  • Managementstrategie: Eine effektive Managementstrategie kann das Risiko von Komplikationen wie Harnwegsinfektionen, Nierenfunktionsstörungen und psychosozialen Belastungen verringern.

Lebensqualität:

  • Verbesserung durch Therapie: Bei erfolgreicher Behandlung und kontinuierlicher Überwachung kann die Lebensqualität der Patienten deutlich verbessert werden. Eine individuell angepasste Therapie kann Symptome lindern und das tägliche Leben erleichtern.
  • Unbehandelte Fälle: Ohne adäquate Behandlung kann die neurogene Blase zu schweren Komplikationen führen, die die Nierenfunktion beeinträchtigen und die Lebensqualität erheblich mindern. Dies unterstreicht die Notwendigkeit einer frühzeitigen Intervention und kontinuierlichen Betreuung der betroffenen Patienten.

Zusammenfassend ist die neurogene Blase eine komplexe Erkrankung, die eine multidisziplinäre Herangehensweise und eine sorgfältige Langzeitüberwachung erfordert, um die bestmöglichen Ergebnisse für die Patienten zu erzielen.

Leitlinien

  1. S2k-Leitlinie: Diagnostik und Therapie der neurogenen Blasenfunktionsstörungen bei Kindern und Jugendlichen mit spinaler Dysraphie. (AWMF-Registernummer: 043 - 047), März 2019 Langfassung
  2. S1-Leitlinie: Diagnostik und Therapie von neurogenen Blasenstörungen. (AWMF-Registernummer: 030-121), Januar 2020 Langfassung