Kinderlähmung (Poliomyelitis) – Einleitung

Die Poliomyelitis – umgangssprachlich Kinderlähmung genannt – bezeichnet eine Infektion mit dem Poliovirus. Dieses Virus zählt zu den Enteroviren. Man kann die Polioviren in drei Serotypen (I, II, III) unterscheiden. Die Erreger befallen vorwiegend das Rückenmark.

Synonyme und ICD-10: atrophische Spinalparalyse; abortive Poliomyelitis; akute Polioenzephalitis; akute Polioenzephalomyelitis; akute Poliomyelitis; aufsteigende progressive Poliomyelitis; Bulbär-paralytische Poliomyelitis; bulbäre Polioenzephalitis; endemische Poliomyelitis; Enzephalitis durch Poliovirus; epidemische Kinderlähmung; epidemische Poliomyelitis; Heine-Medin-Krankheit; infantile Bulbärparalyse; infantile Paralyse; infantile Spinalparalyse; Meningitis durch Poliovirus; myeloische bulbäre Polioenzephalitis; nichtepidemische Poliomyelitis; Paralysis acuta infantum; paralytische Poliomyelitis durch einheimischen Wildvirus; paralytische Poliomyelitis durch importierten Wildvirus; paralytische bulbäre Kinderlähmung; Polio; Polioenzephalitis; Polioenzephalomyelitis; Polioenzephalomyelitis anterior; Poliomyelitis anterior; Poliomyelitis anterior acuta; Poliomyelitis epidemica anterior acuta; Poliomyelitis mit Bulbärparalyse; spinale Atrophie mit akuter infantiler Lähmung; Spinale Kinderlähmung; ICD-10-GM A80.-: Akute Poliomyelitis [Spinale Kinderlähmung]

Formen der Poliomyelitis

  • Nichtparalytische Myelitis: Hierbei kommt es nach einer abortiven Poliomyelitis zu einer Meningitis (Hirnhautentzündung).
  • Paralytische Myelitis: Schwerste Form der Poliomyelitis; es kommt zu Paresen (Lähmungen) und schweren Rücken- und Muskelschmerzen. Diese Form kann in spinale, bulbopontine und enzephalitische Formen unterteilt werden.
  • Abortive Poliomyelitis: Zeigt sich mit Symptomen eines grippalen Infektes; es kommt nicht zu Symptomen am zentralen Nervensystem (ZNS).

Von diesen Formen zu unterscheiden, ist das sogenannte Post-Polio-Syndrom. Dabei kommt es viele Jahre nach der primären Infektion zur Zunahme der Lähmungen.

Epidemiologie

Geschlechterverhältnis: Mädchen und Jungen sind in etwa gleich häufig betroffen.

Häufigkeitsgipfel
: Die Erkrankung tritt vorwiegend bei Kindern im Alter zwischen 3 und 8 Jahren auf.

Prävalenz (Krankheitshäufigkeit)
: Daten zur Prävalenz sind aufgrund der Eradikationsprogramme und der seltenen Vorkommen schwer zu bestimmen.

Inzidenz (Häufigkeit von Neuerkrankungen)
: Letzter gemeldeter Fall in Deutschland war 1990, seitdem nur vereinzelte importierte Fälle.

Erregerreservoir: Der Mensch stellt zurzeit das einzige relevante Erregerreservoir dar.

Vorkommen: Polioviren waren früher weltweit verbreitet, bevor die Weltgesundheitsorgansation (WHO) ein weltweites Eradikationsprogramm startete. Zuletzt wurde 1990 ein Fall in Deutschland gemeldet. Später kam es nur noch sehr vereinzelt zu importierten Fällen. Daneben traten bis 1998 einzelne Fälle von Impf-assoziierter Poliomyelitis auf. Durch den Einsatz eines neuen Impfstoffes konnte diese Komplikation ausgeschlossen werden. Seit 2002 hat die WHO Europa als poliofrei erklärt. 2015 hat die WHO zwei Fälle von Polio in der Ukraine bestätigt.
Heute gibt es nur noch wenige Länder, in denen die Poliomyelitis endemisch vorkommt. Dazu zählen vor allem Afghanistan, Nigeria, Pakistan, Somalia und Syrien.

Kontagiosität (Ansteckungskraft bzw. Übertragungsfähigkeit des Erregers): Der Kontagiositätsindex für Poliomyelitis liegt bei 0,1, das heißt, dass 10 von 100 ungeimpften Personen nach dem Kontakt mit einem Poliomyelitis-Infizierten infiziert werden. Ca. 1-5 % der Poliomyelitis-Infizierten erkranken an typischen Lähmungserscheinungen.

Mensch-zu-Mensch-Übertragung: Ja, die Übertragung des Erregers erfolgt durch Schmierinfektion (fäkal-oral), z. B. über kontaminiertes Trinkwasser und kontaminierte Lebensmittel.

Inkubationszeit (Zeit von der Ansteckung bis zum Ausbruch der Erkrankung): Die Inkubationszeit beträgt zwischen 3 und 35 Tagen.

Übertragungsweg: Die Übertragung des Erregers erfolgt durch Schmierinfektion (fäkal-oral), z. B. über kontaminiertes Trinkwasser und kontaminierte Lebensmittel.

Die Dauer der Infektiosität (Ansteckungsfähigkeit) besteht, solange, wie das Virus ausgeschieden wird. Die Ausscheidung des Virus mit dem Stuhl beginnt nach 72 Stunden und kann bis zu 6 Wochen andauern.

Verlauf und Prognose

Verlauf

Die Poliomyelitis zeigt ein breites Spektrum klinischer Verläufe. Mehr als 90 % der Polioinfektionen verlaufen asymptomatisch, das heißt, sie zeigen keine erkennbaren Symptome und bleiben unbemerkt. Diese asymptomatischen Fälle sind jedoch epidemiologisch bedeutend, da die infizierten Personen das Virus dennoch ausscheiden und somit zur Verbreitung beitragen können.

Bei etwa 5-10 % der Infizierten tritt die sogenannte abortive Poliomyelitis auf. Diese Form zeigt sich mit unspezifischen Symptomen, die einem grippalen Infekt ähneln, wie Fieber, Müdigkeit, Kopfschmerzen, Halsschmerzen und Erbrechen. Das zentrale Nervensystem (ZNS) bleibt hierbei unbeteiligt, und die Symptome klingen in der Regel innerhalb weniger Tage ab, ohne bleibende Schäden zu hinterlassen.

In etwa 1 % der symptomatischen Fälle entwickelt sich eine nichtparalytische aseptische Meningitis (Hirnhautentzündung), die zusätzlich zu den oben genannten Symptomen auch Nackensteifigkeit, Muskelschmerzen und Lichtempfindlichkeit umfassen kann. Diese Form der Erkrankung heilt meist vollständig aus, obwohl die Genesung einige Wochen dauern kann.

Die schwerste Form der Poliomyelitis ist die paralytische Poliomyelitis, die etwa 0,1-0,5 % der Infektionen betrifft. Diese Form tritt typischerweise 7-14 Tage nach den initialen Symptomen auf und ist gekennzeichnet durch das plötzliche Auftreten von Lähmungen (Paresen). Diese Lähmungen betreffen häufig die Beine, können aber auch andere Muskelgruppen einbeziehen, einschließlich der Atemmuskulatur. Die Lähmungen sind asymmetrisch und schlaff (schlaffe Lähmung), wobei die betroffenen Muskeln an Volumen verlieren (Atrophie).

Besonders gefährlich ist die Beteiligung der Atemmuskulatur und der Hirnnerven (bulbäre Poliomyelitis), was zu Ateminsuffizienz und Schwierigkeiten beim Schlucken führen kann. Diese Komplikationen können lebensbedrohlich sein und erfordern eine intensive medizinische Betreuung, einschließlich maschineller Beatmung.

Prognose

Die Prognose der Poliomyelitis variiert je nach Schweregrad der Erkrankung und der betroffenen Körperregionen. Die Letalität (Sterblichkeit bezogen auf die Gesamtzahl der an der Krankheit Erkrankten) der paralytischen Myelitis beträgt 2 bis 20 %. Die höchste Mortalität (Sterberate) wird bei Fällen beobachtet, bei denen die Atemmuskulatur betroffen ist.

Bei Säuglingen und jungen Kindern besteht eine höhere Wahrscheinlichkeit für eine spontane Rückbildung der Lähmungen bis hin zur vollständigen Heilung, insbesondere wenn nur wenige Muskeln betroffen sind. Diese Fälle erfordern jedoch eine sorgfältige Überwachung und physiotherapeutische Unterstützung, um die bestmögliche Genesung zu fördern.

Langfristig können Patienten, die eine paralytische Poliomyelitis überlebt haben, verschiedene Grade von bleibenden motorischen Defiziten aufweisen, die von leichter Schwäche bis zu schweren Lähmungen reichen können. Diese können erhebliche funktionelle Einschränkungen und Behinderungen mit sich bringen.

Ein weiteres wichtiges Langzeitproblem ist das Post-Polio-Syndrom, das Jahre bis Jahrzehnte nach der akuten Infektion auftreten kann. Es ist gekennzeichnet durch eine Zunahme der Muskelschwäche, Müdigkeit und Schmerzen in den Muskeln und Gelenken, die zuvor betroffen waren. Die genaue Ursache dieses Syndroms ist nicht vollständig verstanden, aber es wird angenommen, dass es durch die fortschreitende Degeneration der überlebenden Nervenzellen verursacht wird, die während der akuten Phase der Infektion überlastet wurden.

Die Prognose bei Polioüberlebenden kann durch frühzeitige und fortlaufende physiotherapeutische Maßnahmen, orthopädische Interventionen und gelegentlich chirurgische Eingriffe zur Verbesserung der Funktion und Lebensqualität verbessert werden.

Insgesamt hat die Einführung der Poliomyelitis-Impfung die Inzidenz und Mortalität dieser schweren Krankheit dramatisch reduziert, und die fortlaufenden globalen Impfprogramme zielen darauf ab, die Poliomyelitis weltweit auszurotten.

Impfung: Eine Schutzimpfung gegen Poliomyelitis ist verfügbar. 

In Deutschland ist die Erkrankung nach dem Infektionsschutzgesetz (IfSG) meldepflichtig. Die Meldung hat bei Krankheitsverdacht, Erkrankung sowie Tod namentlich zu erfolgen. Als Verdacht gilt jede akute schlaffe Lähmung, außer wenn traumatisch bedingt.